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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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zögerte jedoch, als Racidio verblüfft die Augen aufriß und zurückwich. Was auch immer er sah - die Soldaten konnten es nicht erkennen. Sie hielten ihre Waffen weiterhin auf Zacharias gerichtet, bis der General einen Befehl zischte, woraufhin sie die Pistolen senkten. Gentle war ebenso überrascht wie die Männer weiter unten an der Treppe, verlor jedoch keine Zeit damit, sich nach dem Grund für die plötzliche Veränderung der Situation zu fragen. Er ließ die Hände sinken und trat über die Leiche von Nikaetomaas hinweg zur letzten Stufe vor dem Treppenabsatz. Racidio wich noch weiter zurück, schüttelte dabei den Kopf und befeuchtete sich die Lippen, aber was auch immer er sagen wollte: Er fand nicht die richtigen Worte. Er wirkte wie jemand, der sich wünschte, vom Boden verschluckt zu werden, und zwar auf der Stelle. Gentle wagte nicht zu sprechen, aus Furcht, den General mit dem Klang seiner Stimme von Panik und Ehrfurcht zu befreien. Statt dessen winkte er Lazarewitsch mit gekrümmtem Zeigefinger zu sich. Der Mann hatte versucht, sich hinter einigen anderen Soldaten zu verstecken, und nur widerstrebend trat er jetzt hinter dem lebenden Schild hervor; dabei blickte er Racidio an, in der Hoffnung, von ihm einen anderen Befehl zu erhalten. Das war nicht der Fall. Zacharias ging auf ihn zu, und der General räusperte sich und brachte die ersten Worte hervor, seit er Gentles Gesicht gesehen hatte.
    »Verzeihen Sie mir«, sagte er mühsam. »Es ist mir äußerst 663

    peinlich.«
    Gentle verzichtete auf eine Antwort und schwieg auch weiterhin, als er mit Lazarewitsch auf die Soldaten zuging. Sie machten ihm sofort Platz. Er schritt durch die Gasse zwischen ihnen und widerstand dabei der Versuchung, immer schneller zu gehen. Obwohl er es sehr bedauerte, sich nicht von Nikaetomaas verabschieden zu können, stand eines fest: Ungeduld und Sentimentalität mochten sich unter den gegenwärtigen Umständen als fatal erweisen. Aus irgendeinem Grund unternahm man nichts gegen ihn, und die Frage nach dem Warum spielte zunächst nur eine untergeordnete Rolle.
    Wichtiger war, daß er den Weg zum Autokraten fortsetzte, in der Hoffnung, dort dem Mystif zu begegnen.
    »Möchten Sie noch immer zum Zapfenturm?« fragte Lazarewitsch.
    »Ja.«
    »Lassen Sie mich gehen, wenn wir ihn erreichen?«
    »Ja«, sagte Gentle erneut.
    Sie blieben kurz stehen, als sich der Soldat am Ende der Treppe orientierte.
    »Wer sind Sie?« fragte Lazarewitsch nach einigen Sekunden.
    »Das würdest du gern wissen, wie?« erwiderte Zacharias.
    Und diese Worte galten nicht nur seinem Begleiter, sondern auch ihm selbst.
    2
    Sechs waren aufgebrochen, und jetzt gab es nur noch zwei. Zu den Toten gehörte auch Thes'reh'ot, der erschossen wurde, als er draußen im Labyrinth der Höfe ein Zeichen in eine Mauer kratzte. Er hatte ihren Weg markieren wollen, damit sie später fliehen konnten, ohne sich zu verirren.
    »Nur der Wille des Autokraten sorgt dafür, daß diese Mauern nicht einstürzen«, hatte er gesagt, als sie in den Palast vordrangen. »Sein Tod bedeutet auch das Ende dieser 664

    Gebäude. Wir müssen uns schnell zurückziehen, wenn wir nicht unter einer gewaltigen Ruine begraben werden wollen.«
    Thes'reh'ot nahm freiwillig an einer Mission teil, die er zunächst für selbstmörderisch gehalten hatte, und er offenbarte dabei einen Optimismus, der an Schizophrenie grenzte. Sein plötzlicher Tod brachte Pie nicht nur um einen unverhofften Verbündeten, sondern nahm ihm auch die Chance zu fragen, warum er bereit gewesen war, sich der Gruppe anzuschließen.
    Andererseits: Mehrere Rätsel begleiteten diese Angelegenheit, zum Beispiel die Unvermeidlichkeit, die in den Worten der Richterin Ausdruck fand - als hätte das Urteil schon festgestanden, noch bevor Pie und Gentle in Yzordderrex erschienen, als liefe jeder Versuch, sich dem allen zu widersetzen, auf Blasphemie hinaus. Solche Unvermeidlichkeit gebar Fatalismus: Zwar riet der Mystif Thes'reh'ot nicht davon ab, den Rückweg zu markieren, aber in dieser Hinsicht gab er sich kaum Illusionen hin. Er verdrängte die Gedanken an den eigenen Tod, bis sein letzter Gefährte - Lu'chur'chem, durch und durch ein Eurhetemec: die Haut blauschwarz, die Augen mit einer doppelten Iris ausgestattet - ihn darauf ansprach. Sie befanden sich in einer Galerie mit Fresken, die Pie an jene Stadt erinnerten, in der er sich einst zu Hause gefühlt hatte. Die gemalten Straßen von London stammten aus der Epoche seiner

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