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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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hinzugesellte.
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    Als sie um eine Ecke bog und die Straße erreichte, an dessen Ende sich Plutheros Theater erhob, nannte jemand ihren Namen. Überrascht blieb sie stehen und wandte sich einem Mann zu, der blaue Kleidung trug und auf einer Treppenstufe saß. Er erhob sich nun - die Frucht, die er geschält hatte, in der einen Hand, das Messer in der anderen - und schien genau zu wissen, wer vor ihm stand.
    »Du bist seine Frau«, sagte er.
    Ist das der Herr? fragtesich Quaisoir. Die Gestalt auf dem Dach am Hafen war kaum mehr gewesen als eine Silhouette, und sie hatte nur einen vagen Eindruck von seinem Gesicht gewonnen. Ist dies der Erlöser?
    Er rief jemanden aus dem Haus, auf dessen Treppe er gesessen hatte - die Verzierungen am Portikus deuteten darauf hin, daß es einst ein Bordell gewesen war. Einige Sekunden später kam der Jünger zum Vorschein, ein Oethac. Die rechte Hand hielt eine Flasche, die linke lag auf der Schulter eines schwachsinnigen Jungen, dessen nackter Leib glänzte.
    Quaisoirs Hoffnungen wichen Skepsis, doch sie wagte es nicht, den Weg fortzusetzen, ohne ganz sicher zu sein.
    »Bist du der Mann der Schmerzen?« fragte sie.
    Der Obstschäler zuckte mit den Schultern. »Sind wir das nicht alle in dieser Nacht?« erwiderte er und warf die Frucht achtlos fort. Der Kretin sprang die Stufen hinunter, griff nach dem Stück Obst und schob es sich in den Mund - Saft quoll zwischen seinen Lippen hervor.
    »Du bist schuld daran«, fuhr der Schäler fort. Er vollführte eine Geste, die der Stadt galt, und deutete dann mit dem Messer auf die Frau. »Sie war am Hafen«, sagte er zum Oethac. »Ich habe sie dort gesehen.«
    »Wer ist sie?«
    »Die Frau des Autokraten«, entgegnete der Mann. »Quaisoir.« Er machte einen Schritt auf sie zu. »Das stimmt doch, oder?«
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    Sie konnte es nicht leugnen, obwohl Flucht ausgeschlossen war. Wenn sie wirklich Jesus gefunden hatte, so mußte sie die Wahrheit sagen, um ihn anschließend um Vergebung zu bitten.
    »Ja«, antwortete sie. »Ich bin Quaisoir. Und ich war die Frau des Autokraten.«
    »Sie ist verdammt schön«, brummte der Oethac.
    »Ihr Aussehen spielt keine Rolle«, teilte ihm der Schäler mit.
    »Wichtig ist nur, was sie getan hat.«
    »Ja...«, bestätigte Quaisoir und begann erneut zu hoffen, daß ihre Suche nach dem Sohn Davids erfolgreich gewesen war.
    »Nur das ist wichtig - was ich getan habe.«
    »Die Hinrichtungen...«
    »Ja...«
    »Säuberungsaktionen...«
    »Ja.«
    »Ich habe viele Freunde verloren, und dafür trägst du die Verantwortung...«
    »O Herr, bitte vergib mir.« Quaisoir sank auf die Knie.
    »Ich habe dich heute morgen am Hafen beobachtet«, sagte Jesus noch einmal und kam näher. »Du hast gelächelt...«
    »Vergib mir.«
    »Du hast dich umgesehen und gelächelt. Und dabei dachte ich...«
    Er war nur noch drei Schritte entfernt.
    »Ich dachte mir - die glitzernden Augen...«
    Er streckte die freie Hand nach Quaisoirs Kopf aus.
    »Deine hübschen Augen...«
    Er hob das Messer.
    »...verdienen es nicht, noch mehr zu sehen.«
    Unmittelbar im Anschluß an diese Worte stach er zweimal schnell hintereinander zu und blendete die Frau vor ihm, bevor sie schreien konnte.
    Tränen quollen jäh in Judiths Augen und verursachten einen Schmerz, wie sie ihn noch nie zuvor gespürt hatte. Sie stöhnte 675

    unwillkürlich und preßte die Handballen an die Augen, um das Brennen zu lindern. Aber es ließ nicht nach. Heiß und ätzend flossen weitere Tränen, und die Pein erfaßte nun den ganzen Kopf. Jude spürte, wie Dowd nach ihrem Arm griff, und die Berührung erfüllte sie mit Dankbarkeit. Wenn er sie nicht gestützt hätte, wäre sie vielleicht gefallen.
    »Was ist los?« fragte er.
    Quaisoir litt, und Judith teilte ihren Schmerz - aber diese Antwort durfte sie nicht geben. »Wahrscheinlich liegt es am Rauch«, sagte sie. »Ich kann kaum mehr etwas sehen.«
    »Wir haben das Ipse fast erreicht«, meinte Dowd. »Aber wir sollten den Weg fortsetzen. Hier draußen im Freien ist es zu gefährlich.«
    Das stimmte zweifellos. Momentan sahen Judiths Augen nur pulsierendes Rot, doch während der vergangenen Stunde hatte sie genug Grausames erblickt, um für den Rest ihres Lebens in jeder Nacht von einem anderen Alptraum heimgesucht zu werden. Die Stadt ihrer Sehnsucht, deren aromatischen Duft sie vor einigen Monaten wahrgenommen hatte - damals, vor der Zuflucht - existierte nur noch als ein Schatten ihrer selbst.
    Vielleicht vergoß Quaisoir

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