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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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spuckte verächtlich auf den Boden zwischen ihnen.
    »Sie trauen mir nicht, oder?« fragte er.
    »Wenn Sie das glauben...«
    »Verdammter Mystif!« stieß Lu'chur'chem wütend hervor.
    »Wenn Sie überleben, bringe ich Sie um, das versichere ich Ihnen!«
    Er verlor keine weiteren Worte, spuckte noch einmal auf den Boden, drehte sich um und stapfte durch die Galerie davon. Pie sah ihm einige Sekunden lang nach, bevor er den Blick wieder auf das Bild richtete.
    Es war schon seltsam genug, ausgerechnet an diesem Ort Darstellungen der Oxford Street und des Volksfestes am Bartholomäustag zu begegnen, so viele Jahre und Domänen von ihrem Ursprung entfernt. Aber es kam noch etwas hinzu.
    Unter anderen Umständen wäre der Mystif vielleicht geneigt gewesen, alles für einen Zufall zu halten, doch das letzte Bild in dieser Reihe unterschied sich von allen anderen und vermittelte eine zu deutliche Botschaft. Die übrigen Gemälde zeigten öffentliche Spektakel, die häufig als Grundlage für satirische Illustrationen und dergleichen gedient hatten. Doch beim letzten war das nicht der Fall. Es bot keine 668

    weltberühmten Orte dar, sondern eine ganz gewöhnliche Straße in Clerkenwell - auch handelte es sich um eine banale Szene, und normalerweise wäre es sicher keinem Künstler der Fünften in den Sinn gekommen, so etwas zu malen. Doch das Bild vor dem Mystif existierte, und es konfrontierte ihn mit vertrauten Details: Ganmut Street wie sie existierte, bis zum letzten Ziegelstein, bis zum letzten Blatt. Und im Zentrum der Darstellung das Haus Nummer achtundzwanzig, Residenz des Maestros Sartori.
    Die Einzelheiten des Gebäudes verrieten sorgfältige, liebevolle Arbeit. Vögel, die auf dem Dach Nester bauten; kämpfende Hunde auf der Treppe. Wie gesprenkelt anmutender Sonnenschein strahlte auf das Haus herab, ein Licht, das den anderen Häusern vorenthalten blieb. Die Eingangstür war geschlossen, aber die Fenster im Obergeschoß standen weit offen, und in einem davon zeichnete sich ein Gesicht ab, zu sehr im Schatten verborgen, um die Züge zu erkennen. Es bestand jedoch kein Zweifel daran, was der Unbekannte beobachtete: die junge Frau durchs Fenster auf der anderen Straßenseite. Sie saß vor dem Spiegel, mit einem Hund auf dem Schoß, und ihre Finger begannen damit, das Mieder aufzuschnüren. Auf der Straße zwischen dieser Schönheit und ihrem voyeuristischen Bewunderer gab es ein Dutzend Details, die auf direkte Erfahrung des Malers hindeuteten. So schlenderten auf dem Bürgersteig unterm Fenster der jungen Frau einige Waisenkinder vorbei, Mündel der Pfarrgemeinde: Sie waren ganz in Weiß gekleidet und trugen Gerten bei sich.
    Angeführt wurde ihre Gruppe vom Pfarreidiener, einem üblen Burschen namens Willis, den Sartori einmal zusammen-geschlagen hatte, weil er die Kinder oft mißhandelte. Einige Häuser weiter rollte Roxboroughs Kutsche um die Ecke, gezogen von seinem Lieblingsbraunen Bellamare - ein Name, der auf den Comte de Saint Germain zurückging. Einige Jahre vorher hatte er viele Frauen von Venedig unter diesem 669

    Pseudonym betrogen. Ein Dragoner verließ gerade Nummer zweiunddreißig; die Hausherrin empfing Offiziere des Regi-ments Prince of Wales, wenn ihr Mann nicht daheim war. Die Witwe auf der anderen Straßenseite sah neidisch zu.
    Das Bild zeigte noch viele andere kleine Straßendramen. Pie kannte sie aufgrund eigener Beobachtungen und fragte sich: Welcher Zuschauer hatte den Malern so gute Beschreibungen geliefert, daß sie alles - Kutsche, junge Frau, Soldat, Witwe, Hunde, Vögel, den Voyeur - mit solcher Genauigkeit darstellen konnten?
    Er hatte keine Möglichkeit, dieses Rätsel zu lösen, und deshalb wandte er den Blick von dem Gemälde ab und sah sich in der langen Galerie um. Der wütende Lu'chur'chem war inzwischen verschwunden, und Pie'oh'pah schien jetzt ganz allein, umgeben von leeren, stillen Korridoren. Kummer regte sich in dem Mystif. Er bedauerte nun, auf die Gesellschaft des Eurhetemec verzichten zu müssen und nicht die richtigen Worte gefunden zu haben, um ihn fortzuschicken, ohne das Feuer des Zorns in ihm zu entfachen. Wie dem auch sei: Jenes Bild bewies die Existenz von Geheimnissen, die Pie noch nicht ergründet hatte. Und wenn er dazu Gelegenheit fand, wollte er keine Zeugen in der Nähe. Zu schnell wurden Ankläger daraus, und der Mystif sah sich bereits genug Vorwürfen ausgesetzt.
    Falls der Tyrann von Yzordderrex in irgendeiner Verbindung mit dem Haus an der Ganmut

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