Imagica
deshalb brennende Tränen?
Nach einer Weile trockneten ihre eigenen, während der Schmerz blieb. Sie haßte den Mann an ihrer Seite, doch ohne seine Hilfe wäre sie sicher zu Boden gesunken. Er stützte sie nach wie vor, und nur dadurch war sie imstande, auf den Beinen und in Bewegung zu bleiben. Das Theater sei jetzt ganz nahe, sagte Dowd; nur noch ein oder zwei Straßen. Dort konnte sie ausruhen, während er sich dem Echo vergangenen Ruhms hingeben wollte. Judith hörte kaum auf seinen Monolog. Ihre Gedanken galten allein der Schwester, der bevorstehenden Begegnung, und sie fühlte, wie in der freudigen Erwartung auch Unbehagen vibrierte. Bisher hatte sie sich vorgestellt, daß Quaisoir gut geschützt diesen Bereich der Stadt aufsuchen, daß Dowd die beiden Frauen bereitwillig sich selbst überlassen 676
würde. Aber wenn er nicht mit abergläubischer Ehrfurcht reagierte, wenn er statt dessen eine oder beide Schwestern angriff? War Quaisoir vor den gräßlichen Käfern geschützt?
Jude rieb die noch immer tränenden Augen. Sie mußte klar sehen, wenn die entscheidende Phase begann, um dann in der Lage zu sein, Dowds Attacke zu entkommen.
Sein Monolog fand ein abruptes Ende. Er blieb stehen und schloß die Finger fester um Judiths Arm, woraufhin sie ebenfalls verharrte. Verwundert hob sie den Kopf. Vor ihnen erstreckte sich eine halbdunkle Straße: Das Licht stammte fast ausschließlich von fernen Feuern, ein mattes Glühen, das durch die Lücken zwischen den Gebäuden kroch, bis hin zu...
Quaisoir. Jude schluchzte. Man hatte ihrer Schwester die Augen ausgestochen, und sie wurde verfolgt, von drei Personen. Sie sah ein Kind, einen Oethac und jemanden, der wie ein Mensch aussah und dessen Gesicht ein teuflisches Grinsen zeigte - offenbar freute er sich über Quaisoirs Qualen.
Er hielt ein Messer in der blutigen Hand und hob es nun über den nackten Rücken des Opfers.
Ein Schrei löste sich von Judiths Lippen, bevor Dowd eingreifen konnte.
»Nein! «
Das Messer stieß nicht zu; die drei Verfolger wandten sich um und sahen Jude an. Das Gesicht des schwachsinnigen Jungen blieb leer, doch die Züge des Mannes mit dem Messer zeigten unverkennbar Entsetzen. Er brachte keinen Ton hervor, im Gegensatz zu dem Oethac, in dessen Stimme Panik zitterte.
»Kommen... Sie... nicht... näher«, sagte er langsam. Sein furchterfüllter Blick huschte zwischen der Verwundeten und ihrem unverletzten Ebenbild hin und her. Der Mann mit dem Messer zwinkerte, fand die Sprache wieder und versuchte, den Oethac zum Schweigen zu bringen - ohne Erfolg.
»Sieh nur!« brachte die Gestalt mit dem großen Schädel hervor. »Was hat das zu bedeuten, verdammt? Sieh nur!«
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»Halt die Klappe«, zischte der Mann. »Wir haben nichts von ihr zu befürchten.«
»Das glaubst du.« Der Oethac schlang einen Arm um den Jungen und hob das Kind auf die Schulter. »Mich trifft keine Schuld«, behauptete er und wich zurück. »Ich habe sie nicht angerührt. Das schwöre ich. Ja, ich schwöre es bei meinen Narben.«
Judith ignorierte ihn und trat einen Schritt auf Quaisoir zu -
was den Oethac dazu veranlaßte, um die eigene Achse zu wirbeln und zu fliehen. Der Mann mit dem Messer ließ sich nicht so leicht einschüchtern; vielleicht verlieh ihm die Klinge zusätzliches Selbstbewußtsein.
»Dir ergeht es ebenso«, warnte er. »Es ist mir gleich, wer du bist - wenn du noch näher kommst, wirst auch du die Augen verlieren.«
Dowds Stimme ertönte hinter Judith, und sie hörte darin eine völlig neue Autorität.
»An deiner Stelle würde ich sie in Ruhe lassen«, sagte er.
Seine Worte blieben nicht ohne Wirkung auf Quaisoir. Sie hob den Kopf und drehte ihn in Dowds Richtung. Der Mann hatte ihr nicht nur die Augen ausgestochen, sondern sie ganz und gar aus den Höhlen gekratzt. Als Judith die Löcher sah, beschämte es sie, das Echo des Schmerzes als fast unerträglich empfunden zu haben - es war nichts im Vergleich mit Quaisoirs Pein. Dennoch klang ihre Stimme erfreut.
»Herr?« fragte sie. »O Herr... Bin ich genug bestraft?
Vergibst du mir jetzt?«
Jude ahnte, was die Worte der Blinden bedeuteten, und die besondere Ironie des Irrtums entging ihr nicht. Dowd war kein Heiland, schien jedoch bereit zu sein, in diese Rolle zu schlüpfen. Er begegnete Quaisoir mit einer Sanftheit, die ebenso falsch war wie zuvor die Schärfe in seiner Stimme.
»Natürlich vergebe ich dir«, sagte er. »Deshalb bin ich hier.«
Dowd lenkte den Mann mit dem
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