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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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und fast nackt. Ein weiterer Beweis dafür, daß dieser Ort nicht immer Heilung brachte. Aber das spielte jetzt ohnehin keine Rolle mehr. Dies war nicht der geeignete Zeitpunkt, den Glauben des Priesters mit kritischen Worten zu erschüttern; zu sehr klagte der Wind und erinnerte ständig an die Präsenz der vielen Toten.
    »Soll ich bleiben?« wandte sich Floccus an Athanasius. Er hoffte ganz offensichtlich, daß man ihn fortschickte.
    »Nein, nein, geh nur«, erwiderte der Pater.
    Dado sah Gentle an und verneigte sich.
    »Es war mir eine Ehre, Herr«, sagte er und eilte fort.
    Athanasius schritt zum anderen Ende der Kammer und starrte dort auf einen Leichnam hinab. Der Priester hatte eine diesem Ort angemessene Kleidung gewählt; er trug jetzt keine hellen Sachen mehr, sondern eine dunkelblaue, fast schwarze Kutte.
    »Nun, Maestro...«, begann er. »Ich habe nach einem Judas in unserer Mitte Ausschau gehalten - und Sie übersehen. Dumm von mir, nicht wahr?«
    Er sprach im Plauderton, und dadurch fand Gentle die Bemerkung noch verwirrender.
    »Wie meinen Sie das?« fragte er.
    »Mit einer List veranlaßten Sie uns, Sie in unsere Gemeinschaft aufzunehmen, und jetzt wollen Sie gehen, ohne für die Entweihung zu büßen.«
    »Von einer List kann keine Rede sein«, erwiderte Gentle.
    »Der Mystif war krank, und ich dachte, hier könnte er geheilt werden. Wenn ich dort draußen irgendwelche Regeln verletzt 785

    habe, so bitte ich Sie in aller Form um Entschuldigung. Leider hatte ich nicht genug Zeit, eine theologische Schule zu besuchen.«
    »Der Mystif ist nie krank gewesen. Und falls doch... Dann ging sein Leid auf Ihr Einwirken zurück - damit Sie sich bei uns einschleichen konnten. Oh, sparen Sie sich Ihren Protest.
    Ich habe gesehen, was Sie dort draußen mit dem Mystif angestellt haben. Mit welchem Auftrag zog er los? Soll er dem Unerblickten von uns berichten?«
    »Was werfen Sie mir vor?«
    »Ich frage mich: Kommen Sie überhaupt aus der Fünften?
    Oder gehört diese Behauptung ebenfalls zum Plan?«
    »Es gibt keinen Plan«, sagte Gentle.
    »Wie ich hörte, lassen sich dort Revolution und Theologie kaum miteinander vereinen, was mir sehr seltsam erscheint.
    Wie kann das eine jemals vom anderen getrennt sein? Wenn man auch nur einen kleinen Teil der jeweiligen Lebensumstände ändert, so muß man damit rechnen, daß irgendwann die Götter aufmerksam werden. Und dann sollte man Erklärungen parat haben.«
    Gentle hörte stumm zu und überlegte, ob es nicht besser wäre, einfach zu gehen und Athanasius seinem Geschwafel zu überlassen - das Gerede ergab überhaupt keinen Sinn.
    Andererseits schuldete er dem Pater ein wenig Geduld, zumindest für die weisen Worte, die er bei der Vermählung gefunden hatte.
    »Sie glauben, ich sei an irgendeiner Verschwörung beteiligt«, sagte Zacharias. »Stimmt das?«
    »Ich glaube, daß Sie ein Mörder, Lügner und Agent des Autokraten sind«, entgegnete Athanasius.
    »Sie bezeichnen mich als Lügner? Wer hat in all den armen Leuten die Hoffnung geweckt, daß es hier Heilung gibt - Sie oder ich? Sehen Sie nur!« Gentle deutete zu den Leichen. »Das soll Heilung sein? Ich nenne so etwas Tod. Dies sind Ihre 786

    Opfer, und wenn sie sprechen und Sie anklagen könnten...«
    Er bückte sich und zog das Tuch vom nächstbesten Körper.
    Das Gesicht darunter gehörte einer hübschen Frau. Die Augen waren glasig, und das galt auch für das Gesicht - dick aufgetra-gene Schminkfarben glänzten dort. Zacharias zog das Tuch noch weiter fort und hörte Athanasius leises, humorloses Lachen. In der Armbeuge der Frau ruhte ein bemaltes Kind: Ein Heiligenschein wölbte sich über seinem Kopf, und die winzigen Hände waren zu einer Segen spendenden Geste erhoben.
    »Sie liegt vollkommen still«, sagte der Priester. »Aber geben Sie sich keinen Illusionen hin - die Frau ist nicht tot.«
    Gentle trat zu einem anderen Körper und befreite ihn vom Tuch. Darunter sah er eine zweite Madonna, etwas barocker als die erste, der von Glückseligkeit kündende Blick nach oben gerichtet. Nach einigen Sekunden entglitt das Leichentuch seinen Fingern.
    »Fühlen Sie sich schwach, Maestro?« fragte Athanasius.
    »Sie verbergen Ihre Furcht mit großem Geschick, aber mich können Sie nicht täuschen.«
    Gentle blickte sich noch einmal in dem Raum um und zählte mindestens dreißig Körper. »Sind es alles Madonnenbildnisse?«
    Athanasius verwechselte die Verwirrung Gentles mit Besorgnis. »Ah, jetzt erkenne ich

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