Imagica
eine Menge Fantasie brauchte, um sie als Madonnenfiguren zu erkennen. Andere erweckten aufgrund einer ausgesprochen kunstvollen Darstellung den Eindruck, von einem Augenblick zum anderen lebendig werden zu können. Eben hatte Gentle eine von ihnen berührt, ohne dabei irgend etwas zu spüren, aber jetzt stiegen prickelnd Unbehagen und Übelkeit in ihm hoch. Wußte Athanasius etwas über das Wesen von Maestros, das ihm selbst bisher verborgen geblieben war? Sollte dieser Anblick Hilflosigkeit bewirken, ihn auf die gleiche Weise fesseln wie früher die Präsenz einer nackten Frau beziehungsweise die Aussicht auf weibliche Nacktheit?
Ganz gleich, um welches Rätsel es sich handelte: Zacharias wollte sich nicht von Athanasius umbringen lassen, während er es zu lösen versuchte. Er holte tief Luft und hob die Hand zum Mund, als der Priester eine Waffe zog und ihm entgegensprang. Gentle gab das Pneuma frei, zielte dabei aber nicht auf Athanasius, sondern auf den Boden direkt vor ihm.
Steine platzten auseinander, Splitter flogen umher und trieben den Pater zurück. Er ließ sein Messer fallen, hielt sich die Hände vors Gesicht und stieß einen Schrei aus, in dem sich sowohl Schmerz als auch Wut vermischten. Wenn sein Kreischen einen Befehl übermitteln sollte, so reagierten die anderen Personen nicht darauf. Sie wahrten einen respektvollen Abstand, als sich Gentle ihrem verwundeten Anführer näherte 790
und dabei durch eine Wolke aus aufgewirbeltem Staub und pulverisiertem Gestein schritt. Athanasius lag neben den Statuen, auf einen Ellbogen gestützt. Der Maestro ging in die Hocke, schob behutsam die Hände des Priester beiseite und sah ihm ins Gesicht. Unter dem linken Auge bemerkte er eine tiefe Schnittwunde, eine zweite über dem rechten. Blut quoll daraus hervor, strömte über die Wangen. Doch die Verletzungen waren keineswegs tödlich, und jemand wie Athanasius wurde sicher leicht mit dem damit verbundenen Schmerz fertig: Immerhin trug er Wunden wie andere Leute Schmuck. Er würde sich schon bald erholen und konnte seiner Sammlung einige weitere Narben hinzufügen.
»Schicken Sie Ihre Killer fort«, sagte Gentle. »Ich bin nicht hierhergekommen, um jemanden zu töten, aber wenn mir keine Wahl bleibt, bringe ich sie alle um. Haben Sie verstanden?« Er zerrte den Pater auf die Beine. »Schicken Sie Ihre Freunde fort!«
Athanasius befreite sich aus Gentles Griff, blinzelte durch einen Schleier aus Blut und starrte zu den anderen Manglern hinüber.
»Laßt ihn gehen«, sagte er. »Irgendwann bietet sich eine neue Gelegenheit.«
Die Gestalten wichen zurück, hielten aber auch weiterhin ihre Waffen bereit. Gentle straffte sich und ging zur Tür. Bevor er sie erreichte, blieb er noch einmal stehen und sah Athanasius an.
»Ich möchte nicht den Mann töten, der Pie'oh'pah und mich verheiratete«, sagte er. »Deshalb bitte ich Sie: Prüfen Sie das Beweismaterial, bevor Sie entscheiden, mich verfolgen zu lassen. Und lauschen Sie der Stimme Ihres Herzens. Ich bin nicht Ihr Feind. Mit geht es nur darum, Imagica zu heilen, die Domänen zusammenzuführen. Ist das nicht auch der Wunsch Ihrer Göttin?«
Athanasius bekam keine Gelegenheit, darauf Antwort zu 791
geben.
Bevor er den Mund öffnen konnte, ertönte draußen ein Schrei, dem kurz darauf ein zweiter folgte, dann ein dritter, schließlich ein Dutzend und noch mehr: ein vielstimmiges Heulen, das von Schmerz und Panik kündete. Vom Wind verstärkt wurde es so schrill, daß es fast die Trommelfelle zerriß. Gentle eilte zur Tür und spürte, wie die ganze Kammer erbebte: die Böen schienen sich in eine riesige Hand zu verwandeln, die nach den Planen griff, in die Kammer tastete, die Laternen umstieß und fortschleuderte, Öl entströmte ihnen, und die auf den Dochten züngelnden Flammen entzündeten es.
Feuer loderte, und praktisch von einer Sekunde zur anderen herrschte Chaos. Der Wind packte auch die Mangler, warf sie hierhin und dorthin, wie die Laternen. Gentle beobachtete, wie eine Frau von ihrem eigenen langen Dolch aufgespießt wurde, wie ein Mann ins brennende Öl fiel und den Flammen neue Nahrung gab.
» Was haben Sie beschworen?« rief Athanasius.
»Ich bin nicht dafür verantwortlich«, erwiderte Zacharias.
Der Priester formulierte weitere Vorwürfe und Anklagen, doch seine Schreie verloren sich im Tosen, als alles noch schlimmer wurde. Der Wind riß eine zweite aus Leinen bestehende Wand der Kammer fort, und dahinter zeigte sich die Szenerie einer
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