Imagica
Lehrer.«
»Ich ebenfalls«, murmelte Gentle. »Aber ich habe ihn verlo-799
ren.«
Der Mönch sah, wie dem Maestro Tränen aus den Augen quollen und wollte sich abwenden. Doch Gentle sagte rasch:
»Seien Sie unbesorgt wegen der Tränen. Ich habe sie zu lange zurückgehalten. Nun, erlauben Sie mir, eine Bitte an Sie zu richten - und ich kann durchaus verstehen, wenn Sie ablehnen.«
»Ich bin ganz Ohr, Maestro.«
»Wenn ich diesen Ort verlasse, suche ich die Fünfte auf, um dort die Rekonziliation vorzubereiten. Wären Sie bereit, sich der Synode anzuschließen, um die Erste Domäne zu vertreten?«
Der Mönch strahlte plötzlich und wirkte um viele Jahre jünger.
»Ihr Angebot ehrt mich sehr, Maestro.«
»Es bringt Gefahren mit sich.«
»Nichts ist ungefährlich. Außerdem: Sie sind der Grund dafür, warum ich hierhergekommen bin.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie inspirieren mich, Maestro«, erläuterte der Mönch und neigte respektvoll den Kopf. »Welche Dienste auch immer Sie von mir verlangen: Ich verspreche Ihnen, Ihren Wünschen so gut wie möglich gerecht zu werden.«
»Dann bleiben Sie hier. Und beobachten Sie die Rasur, während Sie warten. Ich finde Sie, wenn es soweit ist.«
Gentles Worte waren von einer Gewißheit erfüllt, die ihn selbst erstaunte - vielleicht gehörte die Illusion von Kompetenz zum Repertoire eines Maestros?
»Ich warte«, sagte der Mönch schlicht.
»Wie heißen Sie?«
»Als ich mich den Manglern anschloß, nannte man mich Chicka Jackeen.«
»Jackeen?«
»Es bedeutet ›nichtsnutziger Kerl‹.«
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»Dann haben wir viel gemeinsam«, sagte Gentle. Er griff nach der Hand des Mannes und schüttelte sie. »Vergessen Sie mich nicht, Jackeen.«
»Ich denke immer an Sie«, erwiderte der Mönch.
In diesen Worten kam auch noch etwas anderes zum Ausdruck, das Gentle nicht ganz zu erfassen vermochte, doch er verdrängte diesen seltsamen Aspekt aus dem Fokus seiner Aufmerksamkeit. Zwei wichtige und riskante Reisen standen ihm bevor: die erste nach Yzordderrex, die zweite von jener Stadt zur Erde. Er bedankte sich bei Jackeen und ließ ihn vor der Rasur zurück, stapfte durch ein weites Trümmerfeld zu den Madonnenbildnissen. Einige Männer und Frauen wagten sich nun aus dem schützenden Kreis und suchten zwischen den Resten der Zelte nach anderen Überlebenden, die es wahrscheinlich nicht gab. Solche Szenen hatte Gentle während seiner Zeit in den Domänen immer wieder beobachtet. Er wollte glauben, daß ihn allein der Zufall mit derartigen Ereignissen in Zusammenhang brachte, doch etwas zwang ihn, sich der bitteren Realität zu stellen. Die Verbindung zwischen ihm und Pie bezog sich auch auf den verheerenden Sturm.
In Hinsicht auf Athanasius behielt Jackeen recht: Es steckte tatsächlich zuviel Entschlossenheit in dem Pater, um dem Tod nachzugeben. Er stand in der Mitte einer Mangler-Gruppe und dankte der Heiligen Mutter mit einem Gebet fürs Überleben.
Als sich Gentle näherte, hob Athanasius den Kopf. Eine Kappe aus Blut und Schmutz bedeckte das eine Auge, doch im anderen loderte das Feuer des Hasses. Gentle begegnete dem Blick des Priesters, blieb stehen und hörte, wie das Gebet zu einem Flüstern wurde, seine Bedeutung auf den Kreis der Frommen beschränkte. Trotzdem hörte Zacharias das eine oder andere Wort und erahnte zumindest den Sinn. Die von den Statuen in so vielen unterschiedlichen Formen dargestellte Frau war ganz offensichtlich die Jungfrau Maria, aber hier hatte sie auch andere Namen - oder Schwestern. Man nannte sie Uma 801
Umagammagi, Mutter Imagica, und Gentle vernahm auch den Namen, den er zum erstenmal von Huzzah gehört hatte: Tishalulle. Die dritte Bezeichnung erschien ihm sonderbarer als ihre beiden Vorgänger: Jokalaylau. Athanasius bat die Göttin, einen Platz für ihn und seine Gemeinde zu reservieren, im Schnee des Paradieses. Gentle fragte sich, ob der Priester jemals die Eiswüsten gesehen hatte; man konnte sie wohl kaum mit einem Garten Eden vergleichen.
Nun, die Namen mochten eigentümlich sein, doch die religiöse Hingabe erschien sehr vertraut. Athanasius und die anderen Mangler beteten zu der gleichen liebevollen Heiligen, an deren Schreinen in der Fünften Domäne täglich zahllose Kerzen angezündet wurden. Selbst ein besonders heidnischer Gentle wäre bereit gewesen, die Präsenz jener Frau in seinem Leben einzugestehen. Er hatte sie auf die einzige ihm mögliche Weise verehrt: durch Verführung und vorübergehenden Besitz ihres
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