Imagica
Hinblick auf andere Dinge behauptet.«
»Stimmt.«
»Es bleibt nicht mehr viel übrig, was Ihre Stärke sein könnte, wie?«
»Wäre es Ihnen lieber, ohne mich zu reisen, Maestro?«
»Ganz im Gegenteil. Ich würde mich freuen, wenn Sie mit mir kommen. Nun, ich schlage vor, wir vergeuden nicht noch mehr Zeit. Beim Morgengrauen möchte ich in Yzordderrex sein.«
»Warum?« fragte Floccus, und abergläubische Besorgnis vibrierte in seiner Stimme. »Was geschieht beim Morgengrauen?«
»Dann beginnt ein neuer Tag.«
»Sollten wir deshalb dankbar sein?« erkundigte sich Dado.
Er schien eine tiefe Weisheit in den Bemerkungen des Maestros zu erahnen, sah sich jedoch außerstande, ihren Sinn zu erfassen.
»Das sollten wir tatsächlich, Floccus. Für den neuen Tag.
Und für die Chance.«
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»Was für eine, äh, Chance meinen Sie?«
»Die Welt zu verändern.«
»Oh«, murmelte Dado. »Natürlich. Die Welt zu verändern.
Dafür bete ich von jetzt an.«
»Wir lassen uns geeignete Worte für ein entsprechendes Gebet einfallen, Floccus. Von jetzt an müssen wir uns alles einfallen lassen: wer wir sind, an was wir glauben. Es gibt zu viele alte Straßen, die alle in die gleiche Richtung führen. Zu viele Dramen haben sich wiederholt. Morgen müssen wir einen neuen Weg finden.«
»Einen neuen Weg?«
»Ja«, bestätigte Gentle. »Das nehmen wir uns vor, einverstanden? Neue Männer wollen wir sein, wenn der Komet das Firmament erklimmt.«
Das Sternenlicht genügte, um die Skepsis in Dados Gesicht zu erkennen.
»Uns bleibt nicht viel Zeit«, erwiderte er.
Damit hat er recht, dachte Gentle. In der Fünften Domäne dauerte es nicht mehr lange bis zum Sommer. Die Gründe dafür verstand er zwar nicht, aber er wußte: Die Rekonziliation konnte nur an einem ganz bestimmten Tag im Sommer erfolgen. Was für eine Ironie des Schicksals: Über Jahrzehnte hinweg hatte er allein fürs Sinnliche gelebt, für Gefühle, und jetzt blieben ihm nur Stunden, um Versäumtes nachzuholen.
»Sie muß genügen«, sagte er und hoffte, damit Floccus'
Zweifel auszuräumen und die eigenen zu besiegen. Doch es gelang ihm nicht ganz.
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KAPITEL 42
l
Es waren keine Geräusche, die Judith aus dem Kokon der Benommenheit befreiten, den Quaisoirs betäubend wirkendes Bett um sie gesponnen hatte - die ganze Nacht über wehte Lärm von der sterbenden Stadt zum Palast -, sondern ein seltsames Unbehagen: Weil es zu vage blieb, ließ es sich nicht ergründen, und gleichzeitig erwies es sich als zu beharrlich, um ignoriert zu werden. Etwas Bedeutungsvolles war in der Domäne geschehen. Jude spürte noch immer eine eher angenehme Last aus Mattigkeit, doch andererseits prickelte auch Aufregung in ihr, und dieses innere Zittern verhinderte, daß sie sich erneut dem Frieden des duftenden Kissens anvertraute. Sie stand auf, um nach ihrer Schwester zu suchen.
Concupiscentia wartete an der Tür, und ein dünnes Lächeln haftete an ihren Lippen. Judith erinnerte sich undeutlich an das Wesen, das ihr in einem der Träume erschienen war.
Einzelheiten fielen ihr nicht ein, aber das spielte auch keine Rolle - es war viel wichtiger, dem Gefühl der Beklommenheit auf den Grund zu gehen. Sie fand Quaisoir in einem dunklen Zimmer, wo sie neben dem Fenster saß.
»Hat dich etwas geweckt, Schwester?« fragte die Blinde.
»Ja, obwohl ich nicht genau weiß, um was es sich handelt.
Was ist im Verlauf der Nacht passiert?«
»Es geschah etwas in der Wüste«, erwiderte Quaisoir und wandte das Gesicht dem Fenster zu, obwohl sie gar nichts sehen konnte. »Etwas von großer Tragweite.«
»Existiert eine Möglichkeit, mehr herauszufinden?«
Die Blinde holte tief Luft. »Keine leichte...«
»Aber es gibt eine?«
»Ja. Die Kammer unter dem Zapfenturm...«
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Concupiscentia war Judith ins Zimmer gefolgt, doch die letzten Worte ihrer Herrin veranlaßten sie, zur Tür zu schleichen. Quaisoir hörte ihre Zofe und rief sie zurück.
»Hab' keine Angst«, sagte sie zu dem Wesen. »Wir brauchen dich nicht, während wir in der Kammer sind. Aber hol uns eine Laterne. Außerdem etwas zu essen und zu trinken. Vielleicht bleiben wir eine Weile fort.«
Seit anderthalb Tagen hielten sich Judith und Quaisoir in den Gemächern auf, und in dieser Zeit waren alle anderen Personen aus dem Palast geflohen. Vermutlich fürchteten sie, daß der revolutionäre Eifer bestrebt sein mochte, die Festung von den Exzessen des Autokraten zu reinigen, bis auf den letzten Bediensteten. Jetzt
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