Imagica
begann, seinen Widerstand zu brechen.
Die Hände tasteten klauenartig durch leere Luft, als wollten sie sich an Staubkörnern festhalten, um wenigstens einige Sekunden länger in der Zweiten Domäne zu verharren. Doch die Macht, die Tod und Vernichtung geschickt hatte, um Pie zurückzuholen, zerrte noch heftiger an ihm, ließ ihm keine Chance. Gentle hob instinktiv die Arme, um nach den Händen des Mystifs zu greifen, was den Mann an seiner Seite zu einem alarmierten Schrei veranlaßte. Das über ihnen schwebende Wesen reagierte, dehnte den Schattenkörper und streckte schemenhafte Finger aus, die Gentles Hand berührten. Der Kontakt kam einem solchen Schock gleich, daß Zacharias zu Boden gesunken wäre, wenn ihn der Mönch nicht gestützt hätte. Das Mark in seinen Knochen schien zu brodeln, und ein fauliger Geruch ging von seiner Haut aus, als nistete dort der Tod. Angesichts einer derartigen Agonie fiel es Gentle sehr 797
schwer, die Phantomhand des Mystifs umklammert zu halten und ihn zu verstehen. Er kämpfte gegen die Versuchung an, einfach loszulassen, und konzentrierte sich auf die letzten Silben, die Pie stammelte. Drei davon bildeten seinen Namen.
»Sartori...«
»Ich bin hier, Pie«, sagte Gentle. Vielleicht war der Mystif jetzt blind? »Ich bin noch immer hier.«
Aber Pie'oh'pah meinte nicht seinen Maestro.
»Der andere«, brachte er hervor. »Der andere...«
»Was ist mit ihm?«
»Er weiß Bescheid«, hauchte Pie. »Finde ihn, Gentle. Er weiß Bescheid.«
Ihre Finger lösten sich voneinander, und der Kontakt endete.
Pie versuchte, Arm und Schemenleib noch einmal zu dehnen, doch jetzt setzte sich die Rasur endgültig durch und riß ihn zu dem Tor zurück, durch das der Mystif in die Zweite Domäne geflohen war. Zacharias blickte ihm nach, und wenige Sekunden später protestierte sein Körper erneut gegen den von dem Kontakt verursachten Schock - die Beine gaben unter ihm nach, und diesmal versuchte der Mönch nicht rechtzeitig genug, ihn vor einem Sturz zu bewahren. Gentle sank zu Boden, hob den Kopf und sah noch, wie Pie in der Leere verschwand. Während er auf dem harten Boden lag, entsann er sich an die Ereignisse in Manhattan, an die Verfolgung des Mystifs durch kalte Straßen. Auch damals war er gefallen, hatte so gelegen wie jetzt und über das vor ihm verschwindende, ungelöste Rätsel nachgedacht. Vor seinem inneren Auge beobachtete er, wie Pie sich umdrehte und zurückkehrte, zu ihm sprach, ihm eine neuerliche Begegnung in Aussicht stellte. Jetzt mußte er auf eine solche Hoffnung verzichten. Wie vom Wind fortgewehter Rauch löste sich der Mystif auf, und das Heulen verklang abrupt.
»Vorbei...«, murmelte Gentle.
Der Mönch hockte neben ihm.
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»Können Sie aufstehen?« fragte er. »Brauchen Sie Hilfe?«
Zacharias winkelte die Arme an und stemmte sich hoch, ohne Antwort zu geben. Pie'oh'pah existierte jetzt nicht mehr, zumindest nicht in dieser Domäne, und der Sturm, der ihm mit Unheil gefolgt war, flaute ab. Dafür hagelte es jetzt zahllose verschiedene Objekte. Zum zweiten Mal hob der Mönch die Hände, um eine von oben kommende Kraft abzuwehren.
Gentle achtete kaum darauf, was um ihn herum geschah. Sein Blick verweilte in der Rasur, wo das Wogen allmählich ein Ende fand. Als der Regen aus Planen, Steinen und Leichen nachließ, verwandelte sich die Grenze zwischen der Zweiten und Ersten wieder in ein merkmalloses Nichts, das dem Auge des Betrachters keinen Anhaltspunkt bot.
Gentle stand auf, wandte sich von der Rasur ab und sah in die anderen Richtungen. Sie präsentierten ihm entweder Ödnis oder Verheerung - mit einer Ausnahme. Der Kreis aus Madonnenbildnissen, den er zuvor gesehen hatte, existierte nach wie vor und schützte etwa fünfzig Überlebende. Einige von ihnen knieten, beteten und küßten die Füße der Statuen; die anderen starrten zur Leere hinüber, zum Ausgangspunkt des Verderbens, das nur sie sowie den Mönch und den Maestro verschont hatte.
»Sehen Sie Athanasius?« fragte Zacharias den Mann an seiner Seite.
»Nein, aber er ist bestimmt nicht tot. Er gleicht Ihnen, Maestro: Es steckt zuviel Entschlossenheit in ihm, um dem Tod nachzugeben.«
»Ich schätze, allein mit Entschlossenheit hätte ich hier nicht viel ausrichten können«, sagte Gentle. »Mein Überleben verdanke ich in erster Linie Ihnen. Wahre Macht steckt in Ihren Knochen.«
»Nun, vielleicht ein wenig«, erwiderte der Mönch mit einem bescheidenen Lächeln. »Ich hatte einen guten
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