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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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    Achse. »Ich sehe ihn nirgends!« Er richtete einen vorwurfsvollen Blick auf den Mann. »Pie'oh'pah hätte mich bestimmt gefunden, wenn er wirklich hier wäre.«
    »Glauben Sie mir, Maestro: Er versucht es.« Der Mönch strich die Kapuze zurück, und darunter kam schütteres Haar zum Vorschein. Gleichwohl haftete ihm ein seltsamer Charme an. »Er ist sehr nahe.«
    Nun sah der Fremde in den Sturm, nicht nach rechts oder links, sondern geradeaus, direkt ins Wogen. Gentle folgte seinem Blick. Planen flogen weit oben, flatterten wie große, verletzte Vögel hin und her. Zacharias erkannte auch Möbelteile, Kleidungsfetzen und blutige Dinge. In jenen Wolken flog aber auch noch etwas anderes: eine Gestalt, dunkler als Himmel oder Sturm. Und sie sank, kam näher.
    Der Mönch schob sich an Gentle heran.
    »Der Mystif«, sagte er. »Soll ich Sie vor ihm schützen, Maestro?«
    »Pie ist mein Freund«, erklärte Zacharias. »Ich brauche keinen Schutz.«
    »Vielleicht doch.« Der Fremde hob die Arme und hielt die Hände so, daß ihre Innenflächen nach oben zeigten - als wollte er auf diese Weise den Geist abwehren.
    Das Phantom wurde langsamer, als es diese Geste sah, und Gentle musterte es aufmerksam. Es handelte sich tatsächlich um den Mystif - oder um das, was von ihm übriggeblieben war.
    Pie hatte die Rasur verlassen, entweder mittels Schläue oder reiner Gewalt. Doch wenn er sich dadurch Erleichterung erhofft hatte, so mußte er nun eine Enttäuschung hinnehmen.
    Die Fäule glühte jetzt in fast allen Bereichen des schattenhaften Körpers, und aus der Kehle des Leidenden löste sich ein Schrei, der auf unvorstellbare Qualen hinwies.
    Zwei Meter über den beiden Männern verharrte das Etwas, wie ein in plötzlicher Zeitlosigkeit gefangener Turmspringer: die Arme ausgestreckt, der Kopf - beziehungsweise sein 795

    Äquivalent, ein vager Schemen - nach hinten geneigt.
    »Pie?« fragte Gentle. »Hast du dies alles angerichtet?«
    Das Wesen heulte noch immer. Zacharias wußte nicht, ob es etwas mitzuteilen versuchte; er verstand kein einziges Wort.
    »Ich muß mit Pie'oh'pah reden«, wandte er sich an den Mönch. »Wenn Sie ihm Schmerzen zufügen... Hören Sie um Himmels willen damit auf.«
    »Das Jammern begleitete den Mystif hierher«, lautete die Antwort. »Ich habe nichts damit zu tun.«
    »Wie dem auch sei: Es besteht kein Grund, ihn abzuwehren.«
    »Wir müssen mit einem Angriff rechnen.«
    »Ich bin bereit, ein Risiko einzugehen.«
    Der Mönch ließ die Arme sinken. Die Gestalt über ihnen zuckte hin und her, drehte sich, kam jedoch nicht näher. Eine andere Kraft hatte sie in der Gewalt: Pie widersetzte sich einem Einfluß, der ihn in die Rasur zurückrief, zu jenem Ort, von dem er geflohen war.
    »Verstehst du mich?« fragte Gentle.
    Das Heulen dauerte mit unverminderter Lautstärke an.
    »Bitte sprich zu mir!«
    »Er spricht bereits«, sagte der Mönch.
    »Ich höre nur das Heulen.«
    »Es erklingen auch Worte. Aber sie werden vom Kreischen überlagert.«
    Schleimtropfen lösten sich aus den Wunden des Mystifs und fielen herab, als Pie versuchte, der fremden Kraft Widerstand zu leisten. Sie stanken nach Verwesung und brannten in Gentles Gesicht, aber sie ermöglichten es ihm, die im Heulen verschlüsselten Silben zu erkennen.
    »Noch nicht... fertig«, ertönte es. »Es muß etwas... geklärt werden.«
    »Warum hast du das Chaos mitgebracht?« fragte Zacharias.
    »Ich wollte nicht... daß es kommt. Es wurde geschickt - um 796

    mich zurückzuholen.«
    »Stammt es aus der Ersten?«
    »Es ist... Sein Wille«, erwiderte Pie. »Sein... Wille...«
    Das von gräßlicher Pein gequälte Geschöpf ähnelte kaum mehr dem Wesen, das Gentle geliebt und geheiratet hatte, aber die Stimme weckte deutliche Erinnerungen an Pie, und Gentle sehnte sich nach einer Möglichkeit, ihm zu helfen, den intensiven Schmerz zu lindern. Der Mystif hatte die Erste Domäne aufgesucht, um sein Leid abzustreifen, doch es brannte noch immer in ihm, sogar heißer als vorher. Zacharias konnte ihm nur Trost spenden, indem er darauf hinwies, daß er verstand: Im Trauma der Trennung hatte Pie den Eindruck gewonnen, daß etwas Mehrdeutiges existierte, doch er irrte sich, und Gentle sagte es ihm nun.
    »Ich weiß, welche Aufgaben mich erwarten«, betonte er.
    »Vertrau mir, Pie. Ich verstehe. Ich bin der Rekonziliant und entschlossen, meine Pflicht zu erfüllen.«
    Der Mystif zappelte wie ein Fisch am Haken, als die fremde Kraft stärker wurde und

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