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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Katastrophe. Der Sturm wütete im gesamten Bereich der Zeltstadt und zerfetzte das herrliche scharlachrote Gebilde, das Gentle so sehr bewundert hatte. Die Böen zerrissen eine Plane nach der anderen und zerrten sie mitsamt den Halteleinen fort, die wie Peitschen hin und her schwangen.
    Jenseits davon offenbarte sich die Ursache: jene Region, die man ›Rasur‹ nannte. Das Nichts wirkte jetzt nicht mehr wie leergefegt, sondern waberte und wogte auf die gleiche Weise wie der Zapfenhimmel, den Gentle beobachtet hatte, während er unter dem gewaltigen Monolithen stand. Es bildete einen Mahlstrom, dessen Ursprung ein Loch im Gefüge der Rasur zu 792

    sein schien. Dieser Anblick ließ in Zacharias Zweifel an der eigenen Unschuld entstehen. Als er von den Manglern und Madonnenfiguren bedroht worden war... Hatte er vielleicht eine Entität aus der Ersten Domäne gerufen, um sich mit ihrer Hilfe in Sicherheit zu bringen? Wenn das stimmte, so mußte er nun eine Möglichkeit finden, das Etwas seinem Willen zu unterwerfen, bevor es Tod und Vernichtung säte.
    Er hielt den Blick auf den Riß in der Grenze zwischen den beiden Domänen gerichtet, während er die Kammer verließ und durch die Wüste stapfte. Der Sturm heulte auch weiterhin, trug Trümmer hin und her, kehrte zu Stellen zurück, wo bereits Verheerung herrschte, zerrte dort Überlebende aus den Ruinen und warf sie empor, um sie wenige Sekunden später an Stangen und Pfählen zu zerschmettern. Es regnete Blut, und die Tropfen fielen auch auf Gentle herab; doch der Zorn, der sich in unmittelbarer Nähe austobte, ließ ihn unberührt. Die Böen versuchten nicht einmal, sein Gleichgewicht zu erschüttern, ihn zu Boden zu werfen. Der Grund dafür? Sein Atem, den Pie einmal als Quelle aller Magie bezeichnet hatte. Einmal mehr verdichtete er sich zu einem Umhang, gewährte Schutz und verlieh ihm mehr Masse, als Fleisch und Knochen allein für sich darstellten.
    Als Gentle die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, blickte er zurück und hielt nach Anzeichen von Leben zwischen den Madonnenbildnissen Ausschau. Die ehemalige Kammer war leicht zu finden, selbst in dem Durcheinander. Der Wind schürte dort das Feuer, und jenseits der Wolken aus Blut, Steinen und Sand sah Zacharias, daß mehrere Skulpturen aufrecht standen und einen Kreis bildeten, in dem Athanasius und seine Gefährten Zuflucht suchten. Gentle bezweifelte, ob jene Figuren in der Lage waren, den Priester und die anderen Mangler vom Wüten des Sturms abzuschirmen, aber er beobachtete weitere Überlebende, die durchs Chaos krochen und sich von den Heiligen Müttern Rettung erhofften.
    793

    Der Maestro drehte sich um und setzte den Weg zur Rasur fort. Nach einigen Schritten bemerkte er jemanden, der ebenso wie er imstande war, dem Sturm zu widerstehen: ein Mann, dessen Talar die gleiche Farbe hatte wie die zerfetzten Zelte.
    Mit überkreuzten Beinen saß er auf dem Boden, nicht mehr als zwanzig Meter vom Ausgangspunkt des allgemeinen Wütens entfernt. Er sah zum Mahlstrom hinüber, eine Kapuze hüllte sein Gesicht in Schatten. Ist das die Entität, die vielleicht von mir beschworen wurde? überlegte Gentle. Wenn nicht... Wie konnte der Mönch hier überleben, so nahe am Ursprung der Zerstörung?
    Mit lauter Stimme versuchte Zacharias, die Aufmerksamkeit des Mannes zu wecken, fürchtete jedoch, daß ihm der Wind sofort die Silben von den Lippen stehlen würde. Dennoch: Der Mönch hörte ihn. Er drehte den Kopf, blickte Gentle an und demonstrierte dabei Gelassenheit. Das Gesicht... Dem Maestro fiel ein mehrere Tage alter Bart auf und eine schiefe Nase -
    allem Anschein nach war sie einmal gebrochen und man hatte sie wieder gerichtet. Die Augen brachten keinen Wunsch zum Ausdruck, kein Verlangen. Sie hatten alles, was sie wollten: Gentle, der sich näherte. Plötzlich lächelte der Mönch, stand auf und verbeugte sich.
    »Maestro...«, sagte er. »Sie erweisen mir eine große Ehre.«
    Er sprach ganz normal, und trotzdem übertönte seine Stimme das Heulen und Fauchen der Böen. »Kennen Sie den Aufenthaltsort des Mystifs?«
    »Er ist fort«, erwiderte Gentle und brauchte dabei ebensowenig laut zu sprechen wie der Mann vor ihm. Jedes einzelne Wort hatte ein besonderes Gewicht, an dem der Wind vergeblich zerrte.
    »Ja, ich habe gesehen, wie er diese Domäne verließ. Aber er kehrte zurück, Maestro. Er durchbrach die Rasur, und der Sturm folgte ihm.«
    »Wo ist er, wo?« Gentle drehte sich einmal um die eigene

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