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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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vielleicht brächte uns der Zapfen beide um. Nun, es gibt eine Kammer unter dem Turm.
    Die von der Säule empfangenen Mitteilungen filtern in jenen Raum hinab, und ich habe dort oft heimlich gelauscht.«
    Judith ließ Quaisoirs Arm los, schritt zur Tür und spürte Ärger darüber, daß ihr der Turm verwehrt blieb. Sie wollte jene Macht sehen, die von Gott geformt worden war. Doch Quaisoir schien sie für tödlich zu halten, und vielleicht hatte sie recht.
    Aber wie konnte man ohne einen Test sicher sein? Vielleicht ging der Ruf des Zapfens auf die Fantasie des Autokraten 812

    zurück; vielleicht hatte er alles nur erfunden, um die mysteriöse Kraft mit niemandem teilen zu müssen. Unter seiner Ägide waren dem Herrscher große Erfolge möglich gewesen. Was mochte jemand mit solcher Unterstützung fertigbringen?
    Genügte es, mit den Fingern zu schnippen, um die Nacht in den Tag zu verwandeln?
    Jude drehte den Knauf und öffnete die Tür. Muffige und kalte Luft wehte ihr aus der Dunkelheit entgegen. Sie winkte Concupiscentia zu sich, nahm die Laterne, hielt sie hoch und sah in ihrem Schein einen schmalen, nach unten geneigten Korridor, dessen Wände wie poliert wirkten.
    »Ich warten hier, Herrin?« fragte Concupiscentia.
    »Gib mir den Proviant, den du mitgebracht hast«, sagte Quaisoir. »Und bleib vor der Tür stehen. Wenn du jemanden siehst oder hörst... In dem Fall möchte ich, daß du uns Bescheid gibst. Ich weiß, daß es dir widerstrebt, an diesem Ort zu verweilen, aber du mußt tapfer sein, meine Liebe. Verstehst du?«
    »Ja, ich verstehen, Herrin«, erwiderte die Zofe und gab der Blinden ein Bündel und eine Flasche.
    Quaisoir nahm beides entgegen, hakte sich bei Judith ein und trat mit ihr in den Korridor. Einige Teile der Palastmaschinerie schienen noch immer zu funktionieren: Als die Tür hinter ihnen zufiel, schloß sie eine Art Schaltkreis - plötzlich vibrierte und flüsterte die Luft.
    »Das sind erste Andeutungen«, sagte Quaisoir.
    Andeutungen! dachteJudith. Dieses Wort wurde ihrem derzeitigen Empfinden nicht gerecht. So etwas wie stiller Lärm füllte den Tunnel, wie Fragmente der Sendungen von tausend Rundfunkstationen, alle unverständlich und dauernden Veränderungen unterworfen, während der imaginäre Frequenzregler gedreht wurde. Erneut hob Jude die Laterne, um festzustellen, welche Strecke sie noch zurücklegen mußten.
    Der Gang endete zehn Meter weiter vorn, doch mit jedem 813

    Schritt nahm das Durcheinander zu. Es wuchs nicht etwa die Lautstärke, sondern die Komplexität, als irgend etwas den bereits existierenden ›Radiosendern‹ noch mehr hinzufügte.
    Keine Musik erklang. Statt dessen ertönten Myriaden Stimmen, zu einem monotonen Chorus zusammengefaßt, in dem Judith ab und zu einen Schrei zu vernehmen glaubte. Kurz darauf kam noch etwas anderes hinzu: Schluchzen, Flehen und Sprechge-sänge.
    »Was hat das zu bedeuten?« fragte sie.
    »Der Zapfen hört alles Magische in den Domänen. Jede Beschwörung, jede Beichte, jeden Eid eines Sterbenden. Auf diese Weise erfährt der Unerblickte, welche Götter außer Ihm verehrt werden. Und welche Göttinnen.«
    »Er lauscht sogar an Sterbebetten?« Judith machte keinen Hehl aus ihrer Verachtung.
    »Er ist überall dort, wo etwas Sterbliches zum Heiligen spricht, ganz gleich, ob das Heilige existiert oder nicht, ob eine Antwort auf das Gebet erfolgt oder nicht.«
    »Überwacht Er auch uns?« fragte Judith überrascht.
    »Wenn du betest...«
    »Nein, darauf verzichte ich besser.«
    Sie erreichten das Ende des Korridors, und hier vibrierte die Luft noch heftiger. Außerdem war es kälter. Das Licht der Laterne erhellte einen Raum, dessen Struktur an ein Sieb erinnerte. Er durchmaß etwa sechs Meter, und die gewölbten Wände wirkten ebenso poliert wie in der Passage. Im Boden bemerkte Judith ein Gitter, wie der Abfluß unter dem Tisch eines Metzgers: Es nahm die Reste der Gebete auf, die aus Kummer oder Freude geboren worden waren, und von dort aus sickerten sie in den Berg, an dessen Hängen man Yzordderrex errichtet hatte. Es fiel Judith schwer, sich Gebete als etwas vorzustellen, dem Substanz anhaftete, als etwas Materielles, das gesammelt, analysiert und anschließend fortgespült wurde.
    Doch sie wußte auch, daß ihre diesbezüglichen 814

    Schwierigkeiten kultureller Natur waren und in einer Welt wurzelten, die das Magische ablehnte. Nichts konnte so massiv sein, daß Abstraktionen unmöglich wurden, und nichts so ätherisch, daß es

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