Imagica
in dieser Kammer bleiben«, sagte sie.
»Kommst du zurück?« fragte ihr Ebenbild.
»Ja. Früher oder später.«
»Du kommst zurück.« Eine weitere Wiederholung.
Judith hielt sich nicht mit einer Antwort auf, verließ das Zimmer und eilte durch den Korridor zur Tür. Concupiscentia befand sich noch immer auf der anderen Seite und schlief nun: Auf einem breiten Fenstersims ruhte sie, und ihre zarte Gestalt zeichnete sich im ersten Licht des neuen Tages ab, das hinter ihr durch die Scheibe filterte. Es überraschte Jude, daß die Nacht bereits zu Ende ging; sie hatte angenommen, daß es noch eine ganze Weile dauern würde, bis der Komet sein brennendes Haupt über den Horizont dieser Welt erhob.
Offenbar bin ich desorientiert, dachte sie. Während sie Quaisoir in jener Kammer Gesellschaft geleistet, gelauscht und gegessen hatte, waren nicht einige Minuten vergangen, sondern mehrere Stunden.
Sie trat zum Fenster und blickte auf Höfe hinab, die noch im Halbdunkel verharrten. Vögel verließen irgendeinen weiter unten gelegenen Mauervorsprung, stiegen auf und nahmen Judiths Blick mit, trugen ihn einem heller werdenden Himmel entgegen - und hoch zum Turm. Quaisoir hatte es als gefährlich bezeichnet, jenen Bereich aufzusuchen. Doch trotz ihrer Bemerkungen im Hinblick auf die Liebe zwischen Frauen: Stand sie nicht im Bann eines Mannes, durch den sie zur Königin von Yzordderrex geworden war? Deshalb mußte sie wohl daran glauben, daß er seine Gemahlin von Orten fernhielt, die Gefahren für sie heraufbeschwören mochten. Jude beschloß, diesen besonderen Mythos herauszufordern und in Frage zu stellen. Gab es dafür einen besseren Zeitpunkt als jetzt? Immerhin begann ein neuer Tag, und jene Macht, die den 820
Zapfen entwurzelt und hierher entführt hatte, war nicht mehr da.
Judith ging zur Treppe und brachte die ersten Stufen hinter sich. Nach einigen Metern umgab sie völlige Finsternis, und als sie den Weg fortsetzte, blieb ihr die Umgebung ebenso verborgen wie ihrer Schwester. Mit ausgestreckten Händen tastete sie sich an der Wand entlang und gelangte nach etwa dreißig Stufen zu einer Tür, die sie zunächst für verriegelt hielt.
Doch als sie sich mit ganzer Kraft dagegenstemmte, gab das Portal langsam nach, und dahinter erstreckte sich ein Korridor, in dem ein diffuses Zwielicht zumindest etwas erkennen ließ.
Judith hielt sich dicht an der Wand, als sie weiterging, erst an der nächsten Ecke zögerte sie kurz. Die Tür am Ende der Passage war aus den Angeln gerissen worden und lag halb zerfetzt auf dem Fliesenboden. Jude horchte, doch als alles still blieb, sammelte sie genug Mut, um sich einen Ruck zu geben, an der Kammer vorbeizueilen und sich einer Treppe zu nähern, die links nach oben führte. Dort verließ sie den Korridor und begann mit einem zweiten Aufstieg, der sie ebenfalls mit Dunkelheit konfrontierte, bis sich hinter einer weiteren Ecke silbriges Licht herabsenkte.
Einmal mehr legte Judith eine kurze Pause ein. Zwar gab es keine eindeutigen Anzeichen für die unmittelbare Präsenz von Macht - sie empfand die allgemeine Atmosphäre fast als friedlich -, doch aus irgendeinem Grund wußte sie: Über ihr im Turm, am Ende der Treppe, weilte eine ebenso geheimnisvolle wie intelligente Entität. Jude erwog die Möglichkeit, daß Stille und Licht sie beruhigen, nach oben locken sollten. Aber wenn es wollte, daß sie den Turm aufsuchte, sosicher nicht ohne einen triftigen Grund. Und wenn ihr die eigene Fantasie einen Streich spielte, wenn der Stein des Zapfens ebenso tot war wie die Mauern des Palastes, dann hatte sie nichts zu verlieren.
»Bin gespannt, wie du aussiehst«, sagte sie laut, um dem Zapfen des Unerblickten - und auch sich selbst - ihre 821
Entschlossenheit zu zeigen. Im Anschluß an diese Worte schritt sie zur Tür.
2
Bestimmt gab es direktere Routen zum Zapfenturm, aber Gentle entschied sich für jenen Weg, den er zusammen mit Nikaetomaas beschritten hatte. Er verzichtete darauf, nach einer Abkürzung zu suchen und zu riskieren, sich in diesem Labyrinth zu verirren. Am Tor der beiden Heiligen verabschiedete er sich von Floccus Dado, Mama Sanftundnett und ihren Welpen, begann mit einer langen Wanderung durch den Palast und blieb gelegentlich an Fenstern stehen, um die Entfernung zum Zapfenturm abzuschätzen.
Das Morgengrauen verdrängte allmählich die Dunkelheit der Nacht. Vögel verließen ihre Nester unter den Kolonnaden und segelten über die Höfe hinweg, schenkten den
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