Imagica
dafür keinen Platz im materiellen Kosmos gab. Warum sollten Gebete nicht nach einer gewissen Zeit Substanz gewinnen? In diesem Zusammenhang erinnerte sich Jude daran, selbst Erstaunliches und Wundersames erlebt zu haben. Vor der Reise mit Hilfe des blauen Steins hatte sie geglaubt, Gedanken seien ans Gehirn gefesselt, doch jetzt wußte sie, daß die Psyche fliegen konnte wie ein Vogel. Und damit noch nicht genug: Flohartige Wesen vermochten den Körper eines Menschen in nur einer Minute zu verschlingen.
Das gleiche Fleisch ließ sich in ein Symbol verwandeln, das zwischen den Welten reiste. Diese Mysterien schienen Teil eines einheitlichen, in sich geschlossenen Systems zu sein, von dem Judith bis jetzt nur einen Teil verstand: Etwas verwandelte sich, wurde erst dies und dann das, ohne jemals statisch zu sein
- eine kontinuierliche Metamorphose des Seins.
Es war kein Zufall, daß Judith ausgerechnet hier solchen Überlegungen nachhing. Die in diesem Raum erklingenden Geräusche blieben - noch? - ohne erkennbare Bedeutung für sie, aber ihr Zweck erschien nun vertraut, forderten sie zu neuen Aktionen heraus. Sie ließ Quaisoirs Arm los, trat in die Mitte der Kammer und stellte dort die Laterne neben das Gitter im Boden. Aus einem ganz bestimmten Grund waren sie hierhergekommen - das durfte Jude nicht vergessen. Sonst bestand die Gefahr, sich in dem Flüstern, Raunen und Wispern zu verlieren.
»Wie sollen wir das alles verstehen?« fragte sie.
»Es dauert eine Weile«, erwiderte Quaisoir. »Selbst ich habe viel Zeit gebraucht, um mich akustisch zu orientieren. Um das zu erleichtern... Siehst du die Markierungen an den Wänden?
Sie stammen von mir.«
Judith sah sie tatsächlich: Kratzer in der wie Lack glänzen-815
den Oberfläche.
»Die Rasur befindet sich nordnordwestlich von hier. Wir können die Möglichkeiten eingrenzen, indem wir uns in jene Richtung wenden.« Quaisoir streckte den Arm aus und wirkte ein oder zwei Sekunden lang wie ein Geist, der verzweifelt versuchte, einen festen Platz in der Realität zu finden. »Führst du mich in die Mitte, Schwester?«
Judith erfüllte ihr den Wunsch, und anschließend wandten sie sich beide dem Kratzer zu, der Nordnordwesten markierte.
Die Sehende merkte keinen Unterschied: das akustische Chaos hielt unvermindert an, blieb so komplex wie vorher. Quaisoir ließ die Hände sinken und lauschte konzentriert, dabei neigte sie den Kopf von einer Seite zur anderen. Mehrere Minuten verstrichen, und Jude schwieg, um ihre Schwester nicht zu stören. Einige gemurmelte Worte belohnten schließlich ihre Geduld.
»Sie beten zur Madonna«, hauchte Quaisoir.
»Wer?«
»Die Mangler. Vor der Rasur. Sie danken für ihr Überleben und bitten darum, die Seelen der Toten im Paradies aufzunehmen.«
Sie lauschte erneut. Judith hatte nun einen Hinweis bekommen und ahnte, worauf es zu achten galt. Sie versuchte, die ›Andeutungen‹ zu sortieren, einzelne Stimmen und Worte aus dem Durcheinander herauszufiltern. Nach überraschend kurzer Zeit erzielte sie einen Erfolg, doch sie konnte den Fokus nicht lange genug stabil halten, um mehr zu verstehen als halbe Sätze. Irgendwann entspannte sich Quaisoir und zuckte mit den Schultern.
»Jetzt sind es nur noch Fragmente von Szenen«, sagte sie.
»Ich glaube, die Mangler finden Leichen. Ich höre Schluchzen und Flüche.«
»Hast du herausgefunden, was passiert ist?«
»Alles fand vor einiger Zeit statt«, erwiderte Quaisoir.
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»Stundenlang empfing der Zapfen die Gebete. Es muß zu einer Katastrophe gekommen sein, die viele Opfer verlangte.«
»Das Unheil von Yzordderrex scheint sich auszubreiten«, spekulierte Judith.
»Ja, vielleicht«, räumte Quaisoir ein. »Möchtest du dich jetzt setzen und etwas essen?«
»Hier drin?«
»Warum nicht? Ich fühle mich hier wohl.« Die Blinde ließ sich von Jude helfen, als sie Platz nahm. »Mit der Zeit gewöhnst du dich daran. Man kann sogar ein wenig süchtig danach werden. Da fällt mir ein... Wo ist der Proviant?« Judith drückte das Bündel in Quaisoirs ausgestreckte Hände. »Ich hoffe, Concupiscentia hat auch an Kreauchee gedacht.«
Die Finger der Blinden tasteten über das Paket, gruben sich hinein und öffneten es geschickt. Quaisoir holte die einzelnen Objekte hervor: Obst, drei Laibe Schwarzbrot, Fleisch... Sie stieß einen Freudenschrei aus, als sie in dem Bündel ein kleineres Paket entdeckte, das sie nicht wie die anderen Gegenstände Judith reichte, sondern das sie zur
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