Imagica
wohnte nur mehr Leere in den Zimmern, Sälen und Fluren. Während der Nacht hatte Jude mehrmals Stimmen im Bereich der Höfe gehört, doch aus irgendeinem Grund stießen die Aufständischen nicht bis in diesen Teil des Palastes vor. Vielleicht waren sie müde geworden nach dem ersten Zorn. Oder es gab nun kein gemeinsames Ziel mehr für sie. Vielleicht stritten sie miteinander um das Recht zu plündern; vielleicht fielen sie nun übereinander her und vergaßen alles andere. Wie auch immer: Wo sich einst Tausende aufgehalten hatten - Diener und Soldaten, Schreiber und Köche, Kuriere und Henker -, rührte sich jetzt nichts, als drei Gestalten durch die Stille eilten: Judith, geleitet von Concupiscentia und deren Laterne, und Quaisoir, von Jude geführt. Sie bildeten drei winzige Lebensflecken in einer riesigen, dunklen Maschine, in der die einzigen Geräusche von ihren Schritten und jenem gewaltigen Mechanismus stammten, der nun langsam zur Ruhe kam: Warmwasserleitungen knackten, weil in den Öfen kein Feuer mehr brannte; nicht verriegelte Fensterläden knarrten, als sie immer wieder gegeneinanderstießen; Wachhunde, die an halb zerbissenen Leinen zerrten, bellten verzweifelt und fürchteten, daß ihre Herren nicht zurückkehrten. Eine durchaus begründete Furcht.
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Die Öfen würden auch weiterhin abkühlen, die Fensterläden splittern. Was die Hunde betraf... Man hatte sie dazu abgerichtet, den Tod zu bringen, und jetzt kam er zu ihnen. Das Zeitalter des Autokraten Sartori war vorbei, und eine neue Ära mußte erst noch beginnen.
Unterwegs erkundigte sich Judith nach dem Ort, den sie nun aufsuchten, und Quaisoirs Antwort bestand zunächst einmal aus einer Erklärung im Hinblick auf den Zapfen. Der Autokrat hatte mit verschiedenen Methoden über die zusammengeführten Domänen geherrscht, seine Macht abgesichert, indem er die Religionen der Feinde unterdrückte, ihre Regierungen stürzte, eine Nation gegen die andere aufhetzte... Doch selbst damit wäre es ihm höchstens für ein Jahrzehnt gelungen, seinen Thron zu bewahren. Seine lange Herrschaft basierte auf dem genialen Einfall, das bedeutendste Symbol der Macht in ganz Imagica zu stehlen und dem Palast hinzuzufügen. Der Zapfen galt als Hapexamendios' Wahrzeichen, und daß der Unerblickte dem Autokraten erlaubt hatte, Seine Säule zu berühren und sogar zu bewegen... Darin sahen viele Leute einen Hinweis darauf, daß dem Schöpfer von Yzordderrex etwas Göttliches anhaftete und daß er nie besiegt werden konnte. Selbst Quaisoir wußte nicht, welche Kraft der Zapfen seinem Entführer übertragen hatte.
»Manchmal, im Kreauchee-Rausch, sprach er so von der Säule, als sei er mit ihr verheiratet, wobei er in die Rolle der Frau schlüpfte«, sagte die Blinde. »Solche Worte kamen selbst dann über seine Lippen, wenn wir uns liebten. Er meinte, der Zapfen befände sich so in ihm wie er in mir. Nachher stritt er immer alles ab, aber er dachte ständig daran. Alle Männer denken daran.«
Judith brachte Zweifel zum Ausdruck.
»Auch die Männer wollen sich hingeben können«, beharrte Quaisoir. »Sie wünschen sich den Heiligen Geist in ihrem Innern. Man braucht nur ihren Gebeten zuzuhören.«
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»Es geschieht ziemlich selten, daß ich die Gebete von Männern höre.«
»Warte ab, bis sich der Rauch verzieht«, sagte Quaisoir.
»Bestimmt fürchten sich die Männer, wenn ihnen klar wird, daß der Autokrat fort ist. Sie haben ihn gehaßt, ja, aber noch mehr ängstigt sie seine Abwesenheit.«
»Sie könnten gefährlich werden«, entgegnete Judith und ahnte, daß sie mit diesen Worten die Empfindungen von Clara Leash wiedergab. »Ich bezweifle, ob sie ihre Zeit mit Beten vergeuden.«
Concupiscentia blieb stehen, bevor Quaisoir Gelegenheit zu weiteren Erklärungen bekam. Sie sprach leise und zitterte.
»Sind wir da?« fragte die Blinde.
Das Wesen unterbrach seine halblaute Litanei, um bestätigende Antwort zu geben. Die Tür vor ihnen schien ganz normal zu sein, ebenso wie die Treppen rechts und links davon.
Alles wirkte monumental und daher vertraut. Auf dem Weg durch den kalt werdenden Bauch des Palastes hatten sie Dutzende solcher Pforten passiert, doch Concupiscentia hielt diese Tür - beziehungsweise das, was sich dahinter befand - für ein Symbol des Grauens.
»Ist es noch weit bis zum Zapfen?« fragte Judith.
»Er ragt direkt über uns auf«, antwortete Quaisoir.
»Aber wir gehen nicht nach oben, oder?«
»Nein. Es wäre zu gefährlich -
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