Imagica
bedauere.«
»Bedauern Sie es wirklich?« fragte der Mystif.
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Der Maestro sah auf.
»Nein«, sagte er, und es klang überrascht. Er stieg die Treppe hoch. »Vielleicht habe ich Godolphin die Wahrheit gesagt. Vielleicht symbolisiert Judith wirklich unseren einzigen...«
»Sieg«, beendete Pie den Satz und trat beiseite. Sein Beschwörer ging an ihm vorbei zum Meditationszimmer, das wie üblich leer war. »Möchten Sie allein sein?« fragte er.
»Nein«, erwiderte Sartori scharf. Und dann leiser, ruhiger:
»Nein. Bitte bleib bei mir.«
Er schritt zum Fenster, von dem aus er so häufig die Nymphe Allegra vor ihrer Frisierkommode beobachtet hatte. Heftiger Wind drückte nun die Zweige und Blätter des Baums vor dem Haus an die Fensterscheibe.
»Kannst du mich vergessen lassen, Pie'oh'pah? Es gibt einen entsprechenden Zauber, nicht wahr?«
»Ja. Aber ist das wirklich Ihr Wunsch?«
»Nein, noch mehr wünsche ich mir den Tod. Und gleichzeitig fürchte ich mich zu sehr. Deshalb muß ich mich mit dem Vergessen begnügen.«
»Der wahre Maestro weiß, daß Schmerz zu seinem Leben gehört.«
»Dann bin ich kein wahrer Maestro«, erwiderte Sartori. »Mir fehlt der Mut, soviel Pein zu ertragen. Laß mich vergessen, Mystif. Trenn mich von dem, was ich getan habe, was ich für immer bin. Verwandle deine Magie in einen Fluß zwischen mir und diesem Moment, in einen breiten Strom, den ich nie zu durchschwimmen wage.«
»Auf welche Weise wollen Sie Ihr Leben fortsetzen?«
Der Maestro runzelte die Stirn und dachte nach.
»In einzelnen Abschnitten«, antwortete er schließlich. »Ohne daß der eine Teil etwas vom anderen weiß. Kannst du mir diesen Wunsch erfüllen?«
»Ja.«
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»Jene Frau, die ich für Godolphin schuf, wird ebenso leben.
Alle zehn Jahre verschwindet sie, um mit einer neuen Identität von vorn zu beginnen, ohne etwas von ihrem früheren Selbst zu ahnen.«
Gentle hörte bei diesen Worten eine sonderbare Zufriedenheit in seiner eigenen Stimme, als er sich selbst dazu verurteilte, zweihundert Jahre zu vergeuden. Er hatte damals genau gewußt, auf was er sich einließ. Die gleichen Vorbereitungen waren von ihm für die zweite Judith getroffen worden. Und in Hinsicht auf die Konsequenzen habe ich mich keinen Illusionen hingegeben, dachte er nun. Er lehnte die Erinnerungen nicht etwa aus Feigheit ab. Die Trennung von den Reminiszenzen kam vielmehr einer Strafe für sein Versagen gleich, einer Buße, die sich auch auf die Zukunft bezog: Höchstens für zehn Jahre konnte er planen; der Rest verlor sich im Nichts der Zeitlosigkeit.
»Ich werde mich vergnügen, Pie«, sagte er. »Ich wandere in der Welt umher und genieße den Augenblick. Nur die Summe all dessen bleibt mir vorenthalten.«
»Und ich?«
»Nach dieser Angelegenheit bist du frei«, sagte Sartori.
»Was kann ich mit der Freiheit anfangen? Was soll ich sein?«
»Hure oder Killer, es ist mir gleich«, murmelte der Maestro.
Es war eine beiläufige Bemerkung, gewiß kein Befehl. Aber bestand die Pflicht des Sklaven darin, bei Anweisungen zwischen Scherz und Ernst zu unterscheiden? Nein, ein Sklave hatte in erster Linie zu gehorchen, insbesondere dann, wenn die Order von geliebten Lippen kam, so wie jetzt. Mit einigen unüberlegten Worten bestimmte Sartori Pie'oh'pahs Leben während der nächsten beiden Jahrhunderte, zwang ihn zu einem Verhalten, das ihn immer wieder entsetzen sollte.
Gentle sah Tränen in den Augen des Mystifs, und sein Leid war eine Nadel, die sich ihm ins Herz bohrte. Er haßte sich 886
selbst, seine Arroganz, seine Gedankenlosigkeit; er haßte sich, weil er einem Geschöpf Schmerzen bereitete, das ihn nur lieben, nur bei ihm sein wollte. Mehr als jemals zuvor sehnte sich Zacharias danach, Pie'oh'pah wiederzusehen, damit er ihn um Verzeihung bitten konnte.
»Laß mich vergessen«, sagte er. »Ich möchte es nicht länger ertragen.«
Der Mystif sprach, aber welche Beschwörungsformel auch immer er formulierte: Gentle verstand keine einzige Silbe.
Doch Pie'oh'pahs Atem sorgte dafür, daß die Flamme der Kerze auf dem Boden flackerte. Er schenkte dem Maestro das verlangte Vergessen, und es trug nicht nur Erinnerungen fort, sondern auch das Licht.
Gentle entzündete ein Streichholz, und einige Sekunden später brannte die Kerze wieder. Doch die Gewitternacht war zweihundert Jahre weit in die Vergangenheit geglitten, und mit ihr der wunderschöne, gehorsame und liebevolle Pie'oh'pah. Er nahm vor der kleinen Flamme
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