Imagica
zu einer anklagenden Geste hob, konnte er nur den kleinen Finger auf Gentle richten - die anderen existierten nicht mehr. »Du 889
willst es noch einmal versuchen, stimmt's? Streite es nicht ab!
Du bist wieder vom alten Ehrgeiz erfüllt!«
»Sie sind für die Rekonziliation gestorben«, erwiderte Gentle. »Möchten Sie nicht, daß es doch noch gelingt, die Domänen zusammenzuführen?«
»Es ist eine gräßliche Sache!« fauchte Abelove. »Die Welten sind nicht dazu bestimmt, eine Einheit zu bilden. Unser Tod hat das bewiesen. Wenn du es jetzt noch einmal versuchst und erneut versagst..., dann sind wir ganz umsonst gestorben.«
»Ich werde nicht versagen«, sagte Gentle.
»Da hast du vollkommen recht.« Esther hob den Gewebestrang wieder und formte eine Schlinge daraus. »Weil du gar keine Gelegenheit dazu erhältst.«
Zacharias musterte die schauderhaften Gesichter und wußte: Allein mit Vernunft konnte er sie kaum dazu bewegen, ihn in Ruhe zu lassen. Zweihundert Jahre lang hatten sie gewartet, und zwar nicht auf die Chance, mit ihm zu diskutieren. Nein, sie strebten Rache an. Es blieb ihm keine andere Wahl, als sich mit einem Pneuma zu wehren - so sehr er es auch verabscheute, ihren entsetzlichen Wunden weitere hinzuzufügen. Er nahm die Kerze von der rechten in die linke Hand, doch plötzlich packte ihn jemand von hinten und drückte ihm die Arme an den Leib.
Die Kerze entglitt seinen Fingern, fiel auf den Boden und rollte den lebenden Toten entgegen. Abelove hob sie rasch auf und verhinderte damit, daß die Flamme im flüssigen Wachs erstickte.
»Gut gemacht, Flores«, sagte er.
Der Mann hinter Gentle brummte zufrieden und schüttelte seine Beute, um zu zeigen, daß sie ihm nicht entkommen konnte. Seine Arme waren halb zerfetzt, aber sie entfalteten trotzdem eine enorme Kraft. Abelove lächelte, und sein Gesicht wirkte noch mehr wie eine Fratze. Kein Wunder: Die Wangen bestanden aus halb verwesten Hautfladen, die Lippen aus eitrigen Blasen.
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»Du leistest keinen Widerstand«, stellte er fest und trat mit der Kerze näher. »Warum? Hast du dich bereits mit der Vorstellung abgefunden, einer von uns zu werden? Oder glaubst du, daß wir Mitleid mit dir haben, dich verschonen?«
Abelove blieb dicht vor Gentle stehen. »Hübsch«, sagte er, zwinkerte bedeutungsvoll und seufzte. »Wie man dein Gesicht einst liebte... Und die Brust! Wie sehr sich Frauen danach sehnten, den Kopf darauf zu legen!« Er schob seinen Handstummel in Zacharias' Hemd und riß es auf. »Oh, so blaß!
Und haarlos! Dies ist nicht das Fleisch eines Italieners, oder?«
»Spielt es eine Rolle?« fragte Esther. »Wen kümmert's, solange er blutet?«
»Er ließ sich nie dazu herab, uns von sich zu erzählen. Wir mußten ihm einfach vertrauen, weil Macht in seinen Händen und Gedanken ruhte. Er ist wie ein kleiner Gott, sagte Tyrwhitt damals. Aber selbst kleine Götter haben Väter und Mütter.«
Abelove beugte sich vor, und daraufhin flackerte die Kerzenflamme in unmittelbarer Nähe von Gentles Wimpern.
»Wer bist du wirklich! Ein Italiener kannst du nicht sein.
Vielleicht ein Holländer? Ja, ein Holländer. Oder ein Schwede.
Immer kühl und präzise. Nun?« Er zögerte. »Oder bist du das Kind des Teufels?«
»Abelove!« protestierte Esther.
»Ich will es wissen!« keifte der Mann. »Ich möchte, daß er zugibt, Luzifers Sohn zu sein.« Er starrte Gentle an. »Na los!
Gib es zu.«
»Nein«, sagte Zacharias. »Ich bin ich.«
»In der ganzen Christenheit gab es keinen Maestro, der es mit dir aufnehmen konnte. Eine derartige Macht muß dir von jemandem gegeben sein. Von wem, Sartori?«
Gentle hätte gern geantwortet, aber er wußte es ebensowenig wie Abelove.
»Wer auch immer ich bin...«, begann er. »Was auch immer ich getan haben mag...«
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»Was auch immer?« wiederholte Esther spöttisch und zornig. »Hört euch das an! Was auch immer! Was auch immer!«
Sie stieß Abelove beiseite und stülpte Gentle die Schlinge über den Kopf. Abelove erhob Einwände, aber er hatte bereits genug Zeit vergeudet, und die anderen kreischten laut. Esther übertönte sie alle, zog die Schlinge an Gentles Hals fest und zerrte so heftig daran, daß Zacharias das Gleichgewicht verlor und fiel. Als er auf den Boden prallte, spürte er die Nähe der anderen, ohne sie zu sehen. Etwas tastete nach seinen Beinen; etwas anderes berührte die Hoden, schlug zu. Schmerz explodierte in Gentle, und aus einem Reflex heraus setzte er sich zur Wehr,
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