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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Platz und wartete, fragte sich, ob ihn sein Gedächtnis mit weiteren Erinnerungen konfrontieren mochte. Doch das Haus war still und dunkel, vom Keller bis zum Dach.
    »Und nun, Maestro?« sagte er zu sich selbst.
    Sein Magen antwortete mit einem leisen Knurren.
    »Du möchtest verdauen können?« Das Knurren wiederholte sich. »Ja, etwas zu essen...«
    Gentle stand auf, blickte die Treppe hinab und bereitete sich innerlich auf eine Rückkehr in die Gegenwart vor. Doch als er die letzte Stufe erreichte, hörte er, wie etwas über die Bodendielen kratzte. Er hob Kerze und Stimme.
    »Wer ist da?«
    Niemand identifizierte sich. Doch das Kratzen dauerte an, und andere Geräusche gesellten sich hinzu. Keins von ihnen klang angenehm: ein leises, schmerzerfülltes Stöhnen; etwas Feuchtes, das über den Boden strich; rasselnder, pfeifender 887

    Atem. Welches Melodrama wollte ihm sein Gedächtnis jetzt präsentieren? Was bahnte sich an? Irgendwann einmal hätte er unter solchen Umständen vielleicht Furcht empfunden, aber jetzt nicht mehr. Er war zu vielen Schrecken begegnet, um sich von entsprechenden Nachahmungen beeindrucken zu lassen.
    »Was ist los?« fragte er die Schatten, und es überraschte ihn, als er Antwort bekam.
    »Wir haben lange auf dich gewartet«, schnaufte es.
    »Manchmal dachten wir, du würdest nie heimkehren«, sagte jemand anderes. Etwas in der Stimme wies darauf hin, daß sie einer Frau gehörte.
    Gentle trat einen Schritt vor, und der Kerzenschein erfaßte etwas, das wie der Saum eines scharlachroten Rocks aussah. Er wurde hastig fortgezogen und offenbarte einen Boden, auf dem frisches Blut glänzte. Zacharias blieb stehen und wartete auf weitere Worte aus der Finsternis. Er brauchte sich nur wenige Sekunden lang zu gedulden. Diesmal sprach nicht die Frau zu ihm, sondern der Schnaufer.
    »Es war deine Schuld«, zischte der Mann. »Aber wir müssen dafür leiden. Seit vielen Jahren warten wir auf dich.«
    Pein verzerrte die Stimme, aber Gentle erkannte sie trotzdem. Er hatte sie in diesem Haus gehört, damals.
    »Abelove?« brachte er hervor.
    »Erinnerst du dich an die Elster?« Damit bestätigte der Schnaufer seine Identität. »Oft dachte ich: Das war mein Fehler; ich hätte den Vogel nicht ins Haus bringen dürfen.
    Tyrwhitt wollte damit nichts zu tun haben, und er überlebte -
    um alt und senil zu werden. Und Roxborough, und Godolphin, und du... Ihr alle habt überlebt. Aber ich blieb hier, ein Opfer der Agonie. An die Fensterscheibe prallte ich, doch nie fest genug, um von den Qualen erlöst zu werden.« Er stöhnte. Seine Vorwürfe mochten absurd klingen, aber Gentle schauderte trotzdem. »Natürlich bin ich hier nicht allein«, fuhr Abelove fort. »Esther ist bei mir. Und Flores. Und Byam-Shaw. Und 888

    Bloxhams Schwager. Erinnerst du dich an ihn? Du hast hier jede Menge Gesellschaft.«
    »Ich bleibe nicht«, sagte Gentle.
    »Oh, da irrst du dich«, warf Esther ein. »Zumindest dazu bist du verpflichtet.«
    »Lösch das Licht der Kerze«, fügte Abelove hinzu. »Erspar dir unseren Anblick. Wir stechen dir die Augen aus, und anschließend kannst du blind bei uns leben.«
    »Nein«, widersprach Zacharias und hob die Kerze, auf daß ihr Licht einen größeren Bereich erfaßte.
    Die Gestalten erschienen am Rand der Dunkelheit, und das Glühen der Flamme spiegelte sich auf ihren feuchten Eingeweiden wider. Was er für den Saum von Esthers Rock gehalten hatte, erwies sich nun als ein Gewebestrang, der aus Hüfte und Oberschenkel drang. Sie griff danach, schlang ihn sich um den Leib und versuchte, damit ihre Blöße zu bedecken.
    Ihr Schamgefühl war grotesk, aber vielleicht hatte sein Ruf als Frauenheld im Lauf der Jahre eine solche Ausprägung gewonnen, daß sie selbst jetzt, in ihrem derzeitigen Zustand, mit seinem sexuellen Interesse rechnete. Nun, sie bot nicht den schlimmsten Anblick. Byam-Shaw ließ sich kaum mehr als Mensch erkennen, und Bloxhams Schwager erweckte den Eindruck, als sei er von Tigern gefressen und dann wieder ausgespien worden. Doch ganz gleich, in welchem Erscheinungsbild sie sich manifestierten: Sie alle wollten Vergeltung üben. Auf Abeloves Anweisung hin näherten sie sich.
    »Ihr habt schon genug ertragen müssen«, sagte Gentle. »Ich möchte dem alten Leid kein neues hinzufügen. Laßt mich gehen.«
    »Und wohin willst du? Was hast du vor?« Mit jedem Schritt wurden Abeloves Wunden deutlicher. Seine Kopfhaut fehlte, und ein Auge baumelte auf der Wange. Als er den Arm

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