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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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wurde.
    Eine solche Katastrophe zu verhindern... das war tatsächlich wichtiger als Liebe, erst recht, wenn egoistische Furcht die betreffenden Empfindungen prägte, so wie bei Oscar.
    »Vergiß nicht, die Tür hinter mir zu verriegeln«, sagte Jude, als sie das Ende der Treppe erreichte. »Wer weiß, was bei dir anklopfen könnte...«
    2
    Auf dem Weg nach Hause nahm sich Judith Zeit, um einzukaufen. An dieser Tätigkeit hatte sie nie großen Gefallen gefunden, aber heute bekam sie etwas Surreales: Angesichts der dunklen Vorahnungen, die sie begleiteten, wurde das Banale zum Absurden. Einerseits kaufte sie die erforderlichen Dinge für ihren Haushalt, und andererseits schwebte vor ihrem inneren Auge das Bild des gräßlichen Sturms. Aber das Leben 938

    ging weiter, auch dann, wenn es eine Katastrophe zu bringen drohte. Sie brauchte Milch, Brot und Toilettenpapier; sie brauchte Deodorant und Mülltüten. Nur in Romanen und im Film traten die alltäglichen Angelegenheiten zurück, um Platz zu schaffen für das Wichtige. Ihr Körper wurde hungrig und müde, schwitzte und verdaute, bis sich das Leichentuch herabsenkte. Dieser Gedanke vermittelte einen gewissen Trost.
    An der Schwelle ihrer Welt verdichtete sich eine Dunkelheit, die sie eigentlich vom Trivialen ablenken sollte, aber genau das Gegenteil war der Fall. Noch kritischer als sonst wählte sie den Käse aus, und sie schnupperte an fünf oder sechs verschiedenen Deodorants, bevor sie einen Duft entdeckte, der ihr zusagte.
    Nach dem Einkaufen fuhr sie durch Straßen, in denen der Verkehr eines sonnigen Tages herrschte, und unterwegs dachte sie über das Problem namens Celestine nach. Da Oscar nicht bereit zu sein schien, ihr zu helfen, mußte sie woanders nach der benötigten Hilfe suchen, und in Frage kamen praktisch nur Clem und Gentle. Für den Rekonzilianten gab es natürlich genug zu tun, aber nach der vergangenen Nacht - nach dem Versprechen, alles zu teilen, Sorge ebenso wie Visionen -
    verstand er sicher die Notwendigkeit, Celestine aus ihrem unterirdischen Kerker zu befreien, wenn auch nur deshalb, um dieses besondere Rätsel zu lösen. Judith beschloß, sobald wie möglich mit Gentle über Roxboroughs Gefangene zu sprechen.
    Er war nicht in ihrer Wohnung, aber das überraschte sie kaum: Immerhin hatte er ›unmögliche Zeiten‹ für sein Kommen und Gehen angekündigt. Jude bereitete das Mittagessen vor und stellte dann fest, daß sie gar keinen Appetit hatte. Sie entschied, das Schlafzimmer aufzuräumen, dessen Chaos nach wie vor an die Ereignisse der letzten Nacht erinnerte. Als sie die Laken glattstrich, fiel ihr etwas auf: der blaue Stein (beziehungsweise das Ei; diese Bezeichnung hielt sie für besser), der in einer Tasche des zerrissenen Rocks 939

    gesteckt hatte. Dieser Anblick lenkte Judith ab. Sie ließ sich auf den Rand der Matratze sinken, nahm das Ei erst in die eine und dann in die andere Hand und fragte sich dabei, ob ihr der Stein die Möglichkeit gab, Celestines Kerker zu besuchen.
    Dowds Käfer hatten nicht viel von ihm übriggelassen, aber von Anfang an war er nur ein Bruchstück gewesen, ein Fragment aus Estabrooks Safe. Macht wohnte darin, dachte sie. Ist das auch jetzt noch der Fall?
    »Zeig mir die Göttin«, sagte Jude und schloß die Finger fester um das Ei. »Zeig mir die Göttin.«
    Wenn man es so formulierte..., dann erschien die Vorstellung absurd, den Geist vom Körper zu trennen, damit auf die Reise zu gehen. Für so etwas gab es in dieser Welt nur während einer verzauberten Nacht Platz. Jetzt war es später Nachmittag, und die typischen Geräusche des Tages klangen durchs offene Fenster; doch Judith wollte es nicht schließen: Die Straße und der Verkehr, Schmutz, Lärm und ein sommerlicher Himmel -
    alles mußte Teil des Mechanismus werden, der Transzendenz brachte. Andernfalls bestand die Gefahr, daß sie ein ähnliches Schicksal erlitt wie ihre Schwester, die erblindete, ohne die Augen zu verlieren.
    Sie sprach mit sich selbst, um das Wunder herbeizulocken.
    »Es hat schon einmal geklappt«, sagte sie. »Es kann erneut funktionieren. Hab' nur ein wenig Geduld.«
    Aber je länger sie wartete, desto lächerlicher erschien ihr alles. Sie sah sich selbst: eine Frau, die hoffnungsvoll auf der Bettkante saß und einen Stein betrachtete - eine von Dummheit geprägte Szene.
    »Närrin«, flüsterte sie.
    Plötzlich hatte sie es satt und erhob sich. Eine Sekunde später begriff sie ihren Fehler. Judith sah die eigene Bewegung

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