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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Ahnung. Die Schüssel zeigt es immer wieder. Ich bin sicher, daß es irgendwo in London steht.«
    »Wie kommst du darauf?«
    Es handelte sich um ein unscheinbares dreistöckiges Gebäude mit schmuckloser Fassade, das einen halb verfallenen Eindruck machte. Ein derartiges Haus konnte in jeder englischen - oder europäischen - Stadt stehen.
    »In London schließt sich der Kreis«, sagte Oscar. »Hier begann alles, und hier wird alles enden.«
    Diese Bemerkung beschwor memoriale Echos: Dowd an der Mauer des Blassen Hügels, sein Hinweis darauf, daß sich die Geschichte wiederholte; Gentle und sie selbst, vor einigen Stunden in einem Kreis des gegenseitigen Verschlingens vereint.
    »Da ist es wieder«, hauchte Oscar.
    Das Bild des Gebäudes hatte sich verflüchtigt, doch nun kehrte es zurück, deutlicher als vorher. Jemand stand an der Tür, bemerkte Judith, ließ die Schultern hängen, neigte den Kopf nach hinten und blickte zum Himmel. Das Gesicht der Gestalt konnte sie nicht erkennen. Ein anonymer Sonnenanbeter? Nein, wohl kaum. Jedem Detail haftete Bedeutung an. Erneut zerfaserten die Konturen, und die Mittagsszene mit dem klaren Himmel wich einem Moloch aus 933

    schwarzem und grauem Qualm.
    »Da kommt es«, ächzte Oscar.
    Etwas bewegte sich im Rauch, waberte und zuckte, fiel als Asche nieder, ließ sich aber nicht identifizieren. Unbewußt trat Judith einen Schritt vor.
    »Halte dich von der Schüssel fern, Schatz«, sagte Godolphin besorgt.
    Sie überhörte seine Warnung. »Was hat es damit auf sich?«
    fragte sie.
    »Das ist die Macht«, antwortete Oscar. »Jene Macht, die in unsere Welt wechselt, die sich hier ausbreitet.«
    »Aber sie hat nichts mit Sartori zu tun«, kam es erstaunt von Judes Lippen.
    »Sartori?«
    »Der Autokrat.«
    Oscar vergaß seine Furcht und trat neben Judith. »Sartori?
    Der Maestro?«
    Sie drehte nicht den Kopf, um ihn anzusehen, sondern beobachtete auch weiterhin den Moloch. Gern gab sie es nicht zu, aber Godolphin schien recht zu haben: Dies war tatsächlich eine enorme Macht. Und sie ging nicht auf das Werk von Menschen zurück. Judith sah etwas Gewaltiges und Unaufhaltsames. Es glitt über eine Fläche hinweg, die sie zunächst für eine Landschaft hielt, in der kurzes graues Gras wuchs - bis ihr plötzlich klar wurde, daß es sich um eine Stadt handelte. Die ›Grashalme‹ waren Häuser, und das Etwas verwandelte ihre Fundamente in Staub und zermalmte den Rest.
    Kein Wunder, daß Oscar hinter verriegelten Türen zitterte: Die Orakelschüssel zeigte Grauenhaftes, und Judith spürte, wie sich tief in ihrem Innern etwas verkrampfte. Ganz gleich, wie grausam Sartori als Autokrat gewesen sein mochte: Die Geschichte kannte viele Tyrannen wie ihn - Männer, die aus Furcht vor ihrer eigenen Schwäche zu Unheilsbringern wurden.
    934

    Doch dies war eine ganz andere Art von Entsetzen, jenseits von Politik, Intrigen und Mord. Eine ebenso unermeßliche wie unversöhnliche Macht, dazu imstande, alle Maestros und Despoten gedankenlos zu vernichten. Hatte Sartori sie freigesetzt? Glaubte er in seinem Wahn, daß er ihr Chaos überleben konnte, um die Verheerung als Grundlage für ein neues Yzordderrex zu nehmen? Oder ging sein Irrsinn noch tiefer? War die von ihm erträumte Metropole gar mit dem Moloch identisch? Erhoffte er sich eine Stadt, die bis zum Ende der Welt - ihrer wahren Natur - überdauerte?
    Die Zone völliger Vernichtung verschwand im Dunkel, und Judith ließ den angehaltenen Atem entweichen.
    »Es ist noch nicht vorbei«, flüsterte Oscar dicht neben ihrem Ohr.
    Die Dunkelheit zerriß an einigen Stellen und zeigte eine einzelne Gestalt, die auf grauem Boden lag. Jude erkannte sich selbst, obgleich es der Darstellung an Details mangelte.
    »Ich habe dich gewarnt«, sagte Godolphin.
    Dunkelheit hatte dieses Bild geboren, und sie löste sich nicht ganz auf, verharrte als eine Art Dunst, durch den eine zweite Gestalt kam und auf die erste sank. Von einem Augenblick zum anderen wußte Judith, daß sich Oscar irrte: Diese Szene kündigte nicht etwa Verderben für sie an - der Schatten zwischen ihren Beinen war kein Mörder, sondern Gentle. Die Orakelschüssel zeigte sie mit ihm, weil der Rekonziliant Hoffnung angesichts der eben demonstrierten Verzweiflung versprach. Jude hörte, wie Oscar stöhnte, als der Schemen nach ihr griff, ihr die Hand zwischen die Schenkel preßte und dann den Fuß zum Mund hob, um mit dem Verschlingen zu beginnen.
    »Das Phantom bringt dich um«, sagte

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