Imagica
Weise sie das Ei zurückerlangen könnte.
»Hast du etwas, mit dem wir high werden können?«
erkundigte sich Gentle.
»Früher hatte ich etwas Dope...«
»Wo liegt das Zeug?«
»Vielleicht hab' ich alles geraucht. Ich weiß es nicht genau.
Möchtest du, daß ich nachsehe?«
»Ja, bitte.«
Judith griff nach dem Ei, aber Gentle hob den kleinen blauen Stein an die Lippen, bevor ihre Finger ihn berühren konnten.
»Überlaß ihn mir«, sagte er. »Ich möchte ihn riechen. Du 945
hast doch nichts dagegen, oder?«
»Er gehört mir.«
»Du bekommst ihn zurück«, erwiderte Zacharias. Es klang irgendwie herablassend, als hielte er ihre Besitzansprüche für kindisch. »Ich brauche eine Art Andenken - etwas, das mich an dich erinnert.«
»Was hältst du davon, wenn ich dir ein Stück meiner Unterwäsche gebe?«
»Dieser Stein ist mir lieber.«
Er legte sich das Ei auf die Zungenspitze, drehte es hin und her, benetzte es mit seinem Speichel. Judith beobachtete ihn dabei, und Gentle fing ihren Blick ein. Er wußte ganz genau, daß sie den Stein zurückhaben wollte; andererseits widerstrebte es ihr, darum zu betteln.
»Du hast Dope erwähnt«, sagte Gentle.
Jude ging ins Schlafzimmer, schaltete die Lampe neben dem Bett ein und zog die oberste Schublade des Nachtschränkchens auf - dort hatte sie das Marihuana aufbewahrt.
»Wo bist du heute gewesen?« fragte Zacharias hinter ihr.
»Bei Oscar.«
»Oscar?«
»Godolphin.«
»Und wie geht's ihm? Ist er gesund und munter?«
»Ich kann kein Dope finden. Wahrscheinlich hab' ich wirklich alles verqualmt.«
»Was ist mit Oscar?«
»Er hat sich in seinem Haus verbarrikadiert.«
»Wo wohnt er? Vielleicht sollte ich ihn besuchen, ihm sagen, daß er sich keine Sorgen zu machen braucht.«
»Er würde dich nicht empfangen. Derzeit empfängt er niemanden. Er hält das Ende der Welt für nahe.«
»Und du?«
Jude zuckte mit den Schultern. Zorn stieg in ihr auf, ein Ärger, der Gentle galt - obwohl es keinen echten Anlaß dafür 946
gab. Sicher, er hatte das Ei genommen, doch das war kein Kapitalverbrechen. Wenn ihm der Stein ein wenig Schutz gewährte - warum sollte er ihn nicht eine Zeitlang behalten?
Doch sie riskierte es, kleinlich zu sein, und etwas in ihr hinderte sie an uneingeschränkter Großzügigkeit. Ohne die Hitze der Leidenschaft wirkte Gentle großspurig und anmaßend, was untypisch für ihn war. Oh, während ihrer ersten Beziehung hatte sie ihm Dutzende von Fehlern vorgeworfen, aber ein Mangel an Höflichkeit gehörte nicht dazu. Ganz im Gegenteil, dachte sie nun. Er ist sogar zu zuvorkommend und diskret gewesen; diese beiden Eigenschaften trugen erheblich dazu bei, ihn reizvoll zu machen.
»Du hast vom Ende der Welt gesprochen«, sagte er.
»Habe ich das?«
»Hat dir Oscar einen Schrecken eingejagt?«
»Nein«, erwiderte Judith. »Aber bei ihm sah ich etwas, das mich mit Furcht erfüllte.«
Sie erzählte von der Orakelschüssel und ihren Prophezeiungen. Gentle hörte stumm zu.
»Die ganze Fünfte Domäne erbebt - das wissen wir. Aber uns droht keine Gefahr.«
Ähnliche Worte hatte Judith von Oscar gehört. Beide Männer boten ihr eine Zuflucht an, jeder auf seine eigene Weise. Ich sollte mich geschmeichelt fühlen.
Gentle sah auf die Uhr.
»Ich muß jetzt wieder los«, sagte er. »Du bist hier sicher, oder?«
»Ich denke schon.«
»Ich schlage vor, du legst dich hin und schläfst«, sagte Gentle. »Erneuere deine Kräfte und bereite dich vor. Uns erwartet eine dunkle Zeit, bevor wieder Licht erstrahlt, und einen Teil der Dunkelheit werden wir in uns selbst finden. Nun, das ist völlig normal. Immerhin sind wir keine Engel.« Er lachte leise. »Eines steht fest: Zumindest ich bin keiner.«
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Mit diesen Worten steckte er das blaue Ei ein. »Kriech wieder unter die Bettdecke«, fügte er hinzu. »Morgen früh kehre ich zurück. Und sei unbesorgt: Nichts kommt dir zu nahe
- abgesehen von mir. Ich bin die ganze Zeit über bei dir, Jude.
Das meine ich ernst.«
Er lächelte noch einmal und ließ eine nachdenkliche Judith in ihrer Wohnung allein. Sie beherzigte seinen Rat und ging zu Bett; dabei fragte sie sich, welche Bedeutung sich hinter seinen letzten Worten verbarg.
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KAPITEL 47
l
»He, was bist du denn für'n Typ?« wandte sich der schmutzige Bärtige an den Fremden, der das Pech hatte, ihm ausgerechnet jetzt zu begegnen, während er an schlechter Laune litt.
Der Mann, dem diese Frage galt - und den der Bärtige am Hals
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