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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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dankbar, und endlich strömten ihm keine Tränen mehr über die Wangen. Nach einer Weile stand er auf und trat zur Tür aus Wasser; der Tag dahinter erstrahlte heller, und alle Konturen verflüchtigten sich in grellem Licht.
    Judith wußte nicht, was es mit diesem Rätsel auf sich hatte, doch sie spürte, wie es fortglitt, ohne daß sie eine Möglichkeit hatte, es festzuhalten. Das Symbol in ihrem Ich-Kern erschien, und sie glitt daraus hervor wie ein Taucher, der im tiefen Ozean einen Schatz gefunden hatte. Durch die Dunkelheit kehrte sie zum Ausgangspunkt der Reise zurück.
    Der Raum präsentierte sich ihr auf die gleiche Weise wie vorher, aber draußen hatte ein Gewitter begonnen, und es regnete so heftig, daß die Tropfen am Fenster zu einem Vorhang zusammenwuchsen. Judith stand auf und schloß die Finger fest um den blauen Stein. Sie fühlte sich geschwächt, und Schwindel erfaßte sie. Wenn sie jetzt versuchte, zur Küche zu gehen, um etwas zu essen, so gaben unterwegs vermutlich die Beine unter ihr nach.
    Sie seufzte, ließ sich wieder auf die Matratze sinken und schloß die Augen.
    3
    Später glaubte sie, nicht im eigentlichen Sinne geschlafen zu haben, doch es fiel ihr ebenso schwer wie in Quaisoirs Bett, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Jene Bilder, die sie in der Finsternis ihres eigenen Leibes gesehen hatte, erwiesen sich als ebenso beharrliche wie prophetische Visionen. Sie verweilten in ihrem Denken und Fühlen, und das Prasseln der Regentropfen klang dazu wie eine perfekte musikalische Begleitung. Wahrer Schlaf kam erst, als die 943

    Wolken weiterzogen und das Gewitter nach Süden trugen.
    Judith erwachte, als sie Gentles Schlüssel im Schloß hörte.
    Es war Abend oder Nacht, und er schaltete das Licht im Nebenzimmer ein. Sie setzte sich auf und wollte ihn rufen, doch dann überlegte sie es sich anders und sah stumm durch die halb geöffnete Tür. Nur ein oder zwei Sekunden lang bot sich ihr sein Gesicht dar, doch der Anblick genügte, um Verlangen in ihr zu wecken, um sich nach seinen Küssen zu sehnen. Er kam nicht zu ihr, sondern ging nebenan auf und ab und rieb sich die Hände, so als konfrontierten sie ihn mit stechenden Schmerzen. Zuerst nahm er sich die Finger vor, dann die Handballen.
    Schließlich erschöpfte sich Judiths Vorrat an Geduld, und sie stand auf, murmelte schläfrig seinen Namen. Beim erstenmal hörte er ihn nicht, und sie mußte ihn wiederholen. Gentle drehte sich um und lächelte.
    »Noch wach?« fragte er sanft. »Du hättest nicht aufbleiben sollen.«
    »Ist alles in Ordnung mit dir?«
    »Ja. Ja, natürlich.« Er hob die Hände zum Gesicht. »Es ist eine anstrengende Angelegenheit. Ich habe nicht mit so vielen Schwierigkeiten gerechnet.«
    »Möchtest du mir davon erzählen?«
    »Ein anderes Mal«, sagte Gentle und näherte sich der Tür.
    Judith griff nach seinen Händen. »Was ist das?« fragte er.
    Ihre Finger hielten noch immer den blauen Stein, aber nicht mehr lange. Mit dem Geschick eines Taschendiebes löste er ihn aus ihrer Hand. Alles in Judith drängte danach, das Ei wieder in ihren Besitz zu bringen, doch sie unterdrückte diese instinktive Reaktion, während Gentle seine Beute betrachtete.
    »Hübsch«, kommentierte er. Und dann, etwas schärfer:
    »Woher hast du das?«
    Warum zögerte sie, darauf zu antworten? Weil Gentle so müde wirkte? Weil sie ihn nicht mit neuen Mysterien belasten 944

    wollte, während er mit seinen eigenen rang? Das mochte ein Teil des Grunds sein. Aber es kam noch etwas anderes hinzu, das ihr rätselhaft blieb. Es gab einen Zusammenhang mit der Vision, die ihr einen schwerverwundeten Gentle gezeigt hatte, einen Mann, der weitaus müder war als dieser. Das Wissen darum mußte Jude zunächst für sich behalten.
    Gentle schnupperte an dem Ei.
    »Das Ding riecht nach dir«, sagte er.
    »Nein...«
    »Doch. Wo hast du es aufbewahrt?« Mit der anderen Hand tastete er zwischen ihre Schenkel. »Hier drin?«
    Die Vorstellung war gar nicht so absurd. Judith spielte tatsächlich mit dem Gedanken, das Ei dort unterzubringen, wenn sie es zurückbekam, an seinem Gewicht Gefallen zu finden.
    »Nein?« fuhr Gentle fort. »Nun, ich bin sicher, der Stein wünscht sich dorthin. Ich glaube, die halbe Welt würde am liebsten in dich hineinkriechen.« Die Hand übte etwas mehr Druck aus. »Aber deine Muschel gehört mir, oder?«
    »Ja.«
    »Nur ich darf sie genießen?«
    »Ja.«
    Jude antwortete mechanisch, während sie überlegte, auf welche

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