Imagica
Godolphin heiser.
Ein unbeteiligter Beobachter mochte es tatsächlich für Mord halten, aber Judith wußte es besser: Dies war nicht der Tod, sondern Liebe. Und die Steine der Schüssel zeigten nicht die 935
Zukunft, sondern Vergangenheit. Oscar wirkte wie ein erschrockenes Kind, das seine Eltern beim Geschlechtsverkehr überrascht und glaubt, im Ehebett fände Gewalt statt. Es erfüllte Judith mit einer gewissen Erleichterung, daß er nicht verstand - das ersparte ihr die Notwendigkeit, jene Vereinigung zu erklären.
Sie und der Rekonziliant verschmolzen ineinander, und bald krochen die Schatten wieder näher, legten sich über einen aus zwei Körpern bestehenden Knoten, der immer mehr schrumpfte und schließlich verschwand, während die Steine auch weiterhin klickten und klackten.
Es war ein seltsam intimer Schluß der Sequenz. Von Tempel, Turm und Haus bis hin zum Sturm wirkte alles düster, doch die Vision der Liebe kam einem optimistischen Zeichen gleich: Vielleicht konnte jene Einheit die zuvor präsentierte Dunkelheit beenden?
»Jetzt hast du alles gesehen«, sagte Oscar. »Von nun an wiederholt es sich, immer wieder.«
Während der Liebesszene war das Klacken der Steine leiser geworden, doch nun schwoll es wieder an. Judith wandte sich von der Orakelschüssel ab.
»Dir droht Gefahr«, betonte Godolphin. »Du hast es selbst gesehen.«
»Ich glaube, die letzte Szene betrifft mich nicht«, erwiderte Judith in der Hoffnung, Oscar damit abzulenken.
»Ich glaube doch.« Er umarmte sie, und Jude versuchte nicht, sich ihm zu widersetzen - er war noch immer sehr kräftig, trotz seiner Verletzungen. »Und ich möchte dich schützen«, fügte er hinzu. »Darin besteht meine Aufgabe - das weiß ich nun. Du bist schlecht behandelt worden, ja, aber ich kann es wiedergutmachen. Indem ich dich hier bei mir behalte.
Indem ich für deine Sicherheit sorge.«
»Hältst du es tatsächlich für sinnvoll, hier zu hocken und zu hoffen, daß der Weltuntergang ausgerechnet dieses Haus 936
verschont?«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Ja. Wie wär's, mit allen Mitteln Widerstand zu leisten?«
»Gegen eine solche Macht läßt sich nichts ausrichten«, sagte Oscar.
Judith hörte, wie die Steine hinter ihr noch lauter wurden -
sie wußte, welches Bild die Schüssel nun zeigte: dunklen Sturm.
»Zumindest sind wir hier nicht völlig schutzlos«, meinte Godolphin. »Ich habe an allen Türen und Fenstern Seelenwächter postiert. Hast du die in der Küche gesehen, auf dem Fenstersims? Es sind die kleinsten.«
»Und vermutlich sind alle männlich, oder?«
»Ja. Wieso?«
»Sie werden dir keinen Schutz gewähren, Oscar.«
»Mehr haben wir nicht.«
»Du hast vielleicht nicht mehr...«
Judith löste sich aus Godolphins Armen und schritt zur Tür.
Er folgte ihr nach draußen und fragte nach der Bedeutung ihrer Worte. Seine Feigheit brachte sie plötzlich so sehr in Rage, daß sie sich umdrehte und scharf antwortete:
»Seit vielen Jahren gibt es eine Macht direkt vor deiner Nase.«
»Was für eine Macht? Wo?«
»Gefangen unter Roxboroughs Turm.«
»Wovon redest du da?«
»Du weißt nichts von ihr?«
»Nein«, erwiderte Oscar verärgert. »Ich verstehe überhaupt nicht, was du meinst.«
»Ich habe sie gesehen, Oscar.«
»Wen? Und überhaupt - nur Mitglieder der Tabula Rasa gelangen in den Turm.«
»Ich könnte sie dir zeigen, dich zu ihr führen.«
Judith senkte die Stimme und musterte Oscars besorgte 937
Miene, als sie fortfuhr: »Ich glaube, sie ist eine Art Göttin.
Zweimal habe ich versucht, sie zu befreien, und zweimal schlugen meine Bemühungen fehl. Ich brauche Hilfe. Ich brauche deine Hilfe.«
»Unmöglich«, erwiderte Godolphin. »Der Turm gleicht einer Festung. Jetzt noch mehr als jemals zuvor. Ich versichere dir: Dieses Haus ist der einzige sichere Ort in der ganzen Stadt.
Wenn ich es verlasse... Es wäre wie Selbstmord.«
»Na schön.« Judith hatte genug von Oscars Angst und ging die Treppe hinunter. Er rief ihr nach, bat sie, zu ihm zurückzukehren, aber sie schenkte seinen Rufen keine Beachtung.
»Du kannst mich nicht verlassen!« rief er. Es klang fast verblüfft. »Ich liebe dich! Hörst du? Ich liebe dich!«
»Es gibt wichtigere Dinge als Liebe«, entgegnete Jude.
Natürlich fiel es ihr leicht, so etwas zu behaupten, denn immerhin wartete Gentle daheim auf sie. Aber andererseits entsprach es auch der Wahrheit. Sie hatte beobachtet, wie eine Stadt - London? - von der fremden Macht zermalmt
Weitere Kostenlose Bücher