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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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aus der Perspektive eines Beobachters, der in der Nähe des Fensters zu stehen - oder zu schweben - schien. Jähe Panik quoll in ihr empor, und zum zweiten Mal innerhalb von dreißig 940

    Sekunden nannte sie sich eine Närrin. Ein doppelter Irrtum: Zuerst hatte sie geglaubt, mit dem blauen Stein ihre Zeit zu vergeuden, und dann interpretierte sie das Bild von sich selbst -
    eine Judith, die reglos auf dem Bett saß - als Beweis für den Mißerfolg, obwohl es genau das Gegenteil bedeutete. Die Veränderung des Blickwinkels war auf eine so subtile Weise erfolgt, daß sie zunächst gar nichts davon bemerkte.
    »Der Kerker«, sagte sie und nannte dem Geist das Ziel.
    »Zeig mir den Kerker der Göttin.«
    Das körperlose Selbst hätte einfach aus dem Fenster fliegen können, aber statt dessen stieg es rasch zur Decke empor und starrte von dort aus auf den Leib hinab. Schwindel erfaßte Judith, und sie beobachtete, wie ihr fleischliches Ich erzitterte.
    Langsam sank sie wieder, und ihr Kopf schien anzuschwellen, die Ausmaße des Planeten zu gewinnen. Sie durchdrang die Schädeldecke, glitt durch ihren physischen Kosmos und spürte dabei ihre eigene Panik: Das Herz klopfte heftig, und die Lungen pumpten fast hektisch. Hier fehlte jene Art von Helligkeit, die sie in Celestines Körper gesehen hatte; hier erstrahlte nicht das schimmernde Blau, das die Göttin mit dem Stein teilte. Chaos und Finsternis füllten dieses Universum.
    Judith wollte dem Ei zu verstehen geben, daß ihm ein Fehler unterlaufen war, aber wenn ihre Lippen entsprechende Worte formten - was sie bezweifelte -, so wurden sie ignoriert. Sie fiel weiter, immer tiefer, als befände sie sich jetzt in einem unauslotbar tiefen Schacht, der bis in die Ewigkeit reichte.
    Irgendwann sah sie weit unten einen winzigen Lichtpunkt, der allmählich anschwoll, sich von einem Punkt in einen faserigen Streifen aus Helligkeit verwandelte - in ein reines Symbol des Seins. Jude fragte sich, warum sich so etwas in ihrem Innern verbarg. Handelte es sich vielleicht um ein Überbleibsel ihrer individuellen Schöpfung, um einen Rest von Sartoris Zauber, so etwas wie Gentles Signatur, die er in einem gefälschten Bild verbarg? Sie erreichte das Etwas nun, und es 941

    nahm sie auf, umgab sie mit blendendem Glanz.
    Bilder wehten ihr aus dem Schimmern entgegen, und Judith staunte. Sie kannte weder Ursprung noch Bedeutung, aber angesichts einer derartigen Herrlichkeit vergaß sie, daß der Fokus ihrer Aufmerksamkeit die falsche Richtung genommen hatte und sie hierher geführt worden war, anstatt Celestines Kerker aufzusuchen. Sie schien sich nun in einer paradiesischen Stadt aufzuhalten. Überall wuchsen prächtige Pflanzen, und das für eine so üppige Vegetation erforderliche Wasser floß über Bögen und durch Kolonnaden. Sterne funkelten am Himmel, bildeten direkt über ihr einen perfekten Kreis. Dunstschwaden hafteten an ihren Waden, umhüllten die Füße bei jedem Schritt mit einem zarten Schleier. Wie eine geweihte Tochter wandelte Judith durch diese Stadt und erreichte schließlich einen großen, luftigen Raum, dessen Türen aus strömendem Wasser bestanden und wo selbst ein wenig Sonnenschein genügte, um wunderschöne Regenbogen zu schaffen. Dort nahm sie Platz, sah mit geliehenen Augen das eigene Gesicht und die Brüste, so gewaltig, als seien sie für einen Tempel bestimmt. Tropfte Milch aus den Warzen? Sang sie leise? Jude glaubte, die Melodie eines Wiegenlieds zu hören, aber schon bald weckte etwas anderes ihr Interesse, und sie schaute zum gegenüberliegenden Ende des Saals. Jemand kam herein: ein verwundeter Mann, der ganz offensichtlich viel erlebt hatte und den sie nicht sofort erkannte. Er wurde erst zu einer vertrauten Gestalt, als er sie fast erreichte. Gentle.
    Unrasiert und abgemagert. Doch er begrüßte sie mit Freudentränen in den Augen. Wenn er sprach, so hörte sie nichts, aber sie beobachtete, wie er auf die Knie sank. Dann wandte sie den Blick von seinem Gesicht ab und blickte statt dessen das monumentale Bildnis hinter ihr an. Es beschränkte seine Realität nicht nur auf die Existenz von bemaltem Stein: Für Gentle war es ein lebendiger Körper, der lebte und weinte, der auf die andächtige Judith hinabsah.
    942

    Das alles mochte recht sonderbar sein, aber es kam noch seltsamer. Als sich Judith wieder Gentle zuwandte, griff er nach einer Hand, die zu klein war, um ihr zu gehören, und nahm jenen Stein, der ihr diesen Traum schenkte. Er lächelte

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