Imagica
Vergangenheit reicht bis zum verrückten alten Joshua zurück.
Er war Joshuas rechte Hand, sozusagen.«
»Ja, ich weiß«, entgegnete Oscar leise.
»Dann müßtest du eigentlich auch über mich Bescheid wissen.«
Keine Antwort.
»Nun, Oscar?«
»Ich habe nicht mit Dowd über dich gesprochen, wenn du 930
das meinst.«
»Aber dir ist klar, warum ihr mich in der Familie behalten habt - du und Charlie.«
Jetzt war Oscar beleidigt. Ihre Ausdrucksweise gefiel ihm nicht, und er verzog das Gesicht.
»Ich sehe keinen Grund, ein Blatt vor den Mund zu nehmen«, fuhr Judith fort. »Wie ein Objekt bin ich von dir und Charlie behandelt worden. Und das konntet ihr euch nur deshalb leisten, weil ich an die Godolphins gebunden war. Oh, gelegentlich zog ich los, um Pseudo-Freiheit zu kosten, um mich auf diese oder jene Affäre einzulassen, aber eins stand fest: Früher oder später würde ich in den Schoß der Familie zurückkehren.«
»Wir haben dich beide geliebt«, sagte Oscar. Sein Gesicht war jetzt ausdruckslos, die Stimme monoton. »Und glaub mir: Die Umstände blieben uns unklar. Wir scherten uns auch gar nicht darum.«
»Ach, tatsächlich nicht?« Judith machte keinen Hehl aus ihrem Zweifel.
»Ich weiß nur eines: Ich liebe dich. Das ist die einzige Gewißheit meines Lebens.«
Jude fragte sich, ob sie seinem Zucker mit Salz begegnen sollte, mit Hinweisen auf die gegen sie gerichteten Maßnahmen seiner Familie. Aber was nützte es? Oscar war ein gebrochener Mann, gefangen im eigenen Haus - weil er fürchtete, was die Sonne zu ihm einladen mochte. Die Entwicklung der Dinge hatte ihn bereits genug gestraft. Es wäre reine Bosheit gewesen, seinem Leid noch etwas hinzuzufügen. Judith zweifelte nicht daran, daß sein innerer Kern viel Verachtenswertes enthielt, aber sie teilte auch intime Erinnerungen mit ihm, und deshalb konnte sie jetzt nicht grausam sein. Außerdem hatte sie eine Mitteilung für ihn, die schlimmer war als jede Anklage.
»Ich bleibe nicht, Oscar«, sagte sie. »Ich bin nicht hierher 931
zurückgekehrt, um mich irgendwo einzuschließen.«
»Aber dort draußen droht große Gefahr«, entgegnete Godolphin. »Ich habe gesehen, was sich anbahnt. Die Orakelschüssel hat's mir gezeigt. Möchtest du es selbst beobachten?« Er stand auf. »Dann überlegst du es dir bestimmt anders.«
Er führte sie die Treppe hoch zur Schatzkammer, und unterwegs sagte er:
»Seit die fremde Macht zur Fünften kam, hat die Schüssel ein gespenstisches Eigenleben. Sie braucht jetzt keine Zuschauer mehr, um aktiv zu werden, dauernd wiederholt sie die gleichen Szenen. Mit anderen Worten: Sie ist in Panik geraten. Sie weiß, was geschieht - und es entsetzt sie.«
Judith hörte das Klappern und Rasseln, noch bevor sie die Tür des Zimmers erreichten: Es klang nach dicken Hagelkörnern, die auf trockenen, harten Boden fielen.
»Ich halte es nicht für klug, längere Zeit zuzusehen«, mahnte Oscar. »Es wirkt hypnotisch.«
Mit diesen Worten öffnete er die Tür. Die Schüssel stand in der Mitte des Raums auf dem Boden, umgeben von Votivkerzen, deren Flammen hin und her zuckten. Die prophezeienden Steine bewegten sich wie ein Schwarm zorniger Bienen in und über der Schale. Oscar hatte die Schüssel mit einem kleinen Wall aus Erde umgeben, damit sie nicht umstürzte, und die Luft roch nach ihrer ›Panik‹: ein bitterer Geruch, verbunden mit dem metallischen Aroma vor den Blitzen eines Gewitters. Zwar beschränkten die Steine ihren Tanz auf den Bereich der Schüssel, aber Judith wahrte trotzdem einen sicheren Abstand, um kein Risiko einzugehen.
Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt einzig und allein dem rasselnden Spektakel, obgleich die einzigartigen Kostbarkeiten in den Regalen bewundernde Blicke verdienten. Der Rest des Zimmers - auch Oscar - spielte plötzlich keine Rolle mehr.
»Manchmal dauert es eine Weile, bis man die Bilder erkennt«, sagte Godolphin. »Aber sie sind die ganze Zeit über 932
da.«
»Ich sehe sie«, erwiderte Jude.
In dem schemenhaften Wogen erschien die Zuflucht; ihre Kuppel verschwand fast ganz hinter den Wipfeln der hohen Bäume. Nach wenigen Sekunden rückte der Turm der Tabula Rasa an ihre Stelle, um dann einem dritten Gebäude zu weichen, das sich von den beiden anderen unterschied, doch es gab eine Gemeinsamkeit: Es blieb ebenfalls halb hinter Blättern verborgen, in diesem Fall hinter denen eines Baumes, der davor aus dem Pflaster wuchs.
»Was ist das für ein Haus?« fragte Judith.
»Keine
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