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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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zu erheben.
    Sie beobachteten, wie er den Wehrlosen zu Boden schlug und dann mehrmals nach ihm trat. Der Fremde wimmerte und rollte sich zusammen, um zumindest ein wenig geschützt zu sein.
    Der Anführer ließ nicht von ihm ab, bückte sich, zog die Hände vom Gesicht fort, hob den Stiefel...
    Als Tolland zutreten wollte, klirrte es hinter ihm - die 951

    Weinflasche fiel zu Boden und splitterte. Wütend wirbelte er zu dem Iren herum.
    »Was fällt dir ein?«
    »Du solltest keine Verrückten zusammenschlagen«, antwortete der Mann, doch es klang bereits kleinlaut.
    »Willst du mich etwa daran hindern?«
    »Ich meine nur...«
    »Ich habe gefragt, ob du mich daran hindern willst, verdammt!«
    »Der Kerl hat sie nicht alle, Tolly.«
    »Ich trete ihm Vernunft in die Rübe«, erwiderte der Anführer.
    Er ließ die Arme des Sanften los, wandte sich um und starrte den Iren an.
    »Oder möchtest du das übernehmen?«
    Der Mann schüttelte den Kopf.
    »Na los«, knurrte Tolland. »Erledige es für mich.« Er trat über den Fremden hinweg und kam näher. »Na los...«, sagte er noch einmal. »Na los...«
    Der Ire wich zurück, und Tolland stapfte zielstrebig auf ihn zu. Unterdessen drehte sich der Sanfte auf die andere Seite und kroch langsam fort. Blut rann ihm aus der Nase und tropfte aus den Platzwunden in der Stirn. Niemand machte Anstalten, ihm zu helfen. Wenn das Feuer des Zorns so heiß in Tolland brannte, war er zu allem fähig. Dann ging es jedem an den Kragen, der ihm in den Weg trat, ganz gleich ob Mann, Frau oder Kind. Er zögerte nie, Knochen zu brechen oder jemanden den Schädel einzuschlagen.
    Einmal hatte er einem Mann einen großen Glassplitter ins Auge gestoßen - weil der Betreffende so dumm gewesen war, ihn zu lange anzusehen. Alle Stadtstreicher nördlich und südlich des Flusses kannten ihn - und hofften inständig, daß sie es nicht mit ihm zu tun bekamen.
    Der Ire vollführte eine kapitulierende Geste.
    952

    »Schon gut, Tolly, schon gut«, sagte er. »Tut mir leid. Ich schwör's - es tut mir wirklich leid.«
    »Du hast meine verdammte Flasche zerbrochen.«
    »Ich besorg dir eine andere. Jetzt sofort.«
    Der Ire kannte Tolland länger als die übrigen Angehörigen der Gruppe, und er wußte auch, wie man ihn besänftigte: mit einer unterwürfigen Entschuldigung, bei der es möglichst viele Zeugen gab. So etwas bot keine Garantie, aber heute funktionierte es.
    »Ja, ich besorge dir eine Flasche, auf der Stelle.«
    »Bring mir zwei, du Dreckskerl.«
    »Du hast völlig recht, Tolly. Ich bin ein Dreckskerl.«
    »Und bring auch Carol eine«, fügte der Anführer hinzu.
    »In Ordnung.«
    Tolland richtete einen schmutzigen Zeigefinger auf ihn.
    »Laß dir das eine Lehre sein. Komm mir nie wieder in die Quere. Sonst reiße ich dir die verdammten Eier aus dem Sack.«
    Im Anschluß an diese Worte wandte sich Tolland wieder seinem Opfer zu. Als er sah, daß der Sanfte bereits einige Meter weit gekrochen war, stieß er einen wütenden Schrei aus, woraufhin die anderen rasch beiseite traten, um ihm nur nicht im Wege zu sein. Doch Tolland blieb stehen, während der Verletzte mühsam aufstand und an dem Durcheinander aus Kartons und Abfällen vorbeitaumelte.
    Weiter vorn kniete ein sechzehnjähriger Junge und malte mit bunter Kreide auf den Betonplatten. Ab und zu hielt er inne, um Pastellstaub fortzupusten. Er war ganz auf sein Werk konzentriert, hatte das grausame Spektakel vollkommen ignoriert, doch jetzt hörte er Tollands Stimme.
    »He, Montag, du Blödmann! Halt den Burschen fest!«
    Der Junge sah auf. Sein Haar war so kurz geschnitten, daß es nur mehr dunklen Flaum bildete, und er hatte eine pockennarbige Haut. Die Augen blickten erstaunlich klar, und er brauchte nur eine Sekunde, um sein Dilemma zu begreifen.
    953

    Wenn er den blutenden Mann festhielt, verurteilte er ihn praktisch zum Tod. Doch wenn er Tollands Befehl mißachtete, mußte er mit ernsten Konsequenzen rechnen. Er gab sich verwirrt, um etwas Zeit zu gewinnen, und wölbte die eine Hand hinterm Ohr.
    »Du sollst ihn aufhalten!« rief der Anführer.
    Montag erhob sich, und dabei flüsterte er dem Fremden zu:
    »Verschwinde von hier.«
    Doch der Idiot verharrte nun und starrte auf das von dem Jungen gemalte Bild. Als Vorlage hatte ein Zeitungsfoto gedient: eine junge Schönheit, die aus großen Augen in die Kamera blickte und einen Koalabär in den Armen hielt.
    Montag hatte alle Einzelheiten der Frau mit großer Sorgfalt wiedergegeben, doch der

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