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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Bär kam einem Ungeheuer gleich: Das eine große Auge im fratzenhaften Gesicht glühte wie ein Fanal des Unheils.
    »Hast du nicht gehört?« fragte der Junge leise.
    Der Mann achtete nicht auf ihn.
    »Es ist deine Beerdigung«, sagte er, richtete sich auf, als Tolland näher kam, und gab dem Fremden einen sanften Stoß.
    »Hau ab, Mann. Sonst dreht er dich voll durch die Mangel.«
    Tolland rief nach dem Iren, der sofort neben ihm erschien, eifrig bemüht, den früheren Fehler wiedergutzumachen.
    »Ja,Tolly?«
    »Schnapp dir den verdammten Jungen.«
    Der Ire gehorchte, lief zu Montag und hielt ihn fest, während der Anführer sich dem Sanften näherte, der noch am Rand des bemalten Bereichs stand.
    »Bitte sorg dafür, daß kein Blut darauf tropft«, jammerte Montag.
    Tolland sah kurz den Jungen an, trat dann auf das Bild und kratzte mit dem Stiefel über das kunstvoll strukturierte Gesicht der Frau. Montag stöhnte, als er beobachtete, wie sich die verschiedenen Farben miteinander vermischten und zu 954

    graubraunem Staub wurden.
    »Bitte!« heulte er. »Bitte nicht!«
    Doch damit stimulierte er nur den Zorn des Vandalen.
    Tolland entdeckte die Tabakdose mit Montags Kreidestücken und wollte danach treten. Der Junge riß sich los, sprang vor und warf sich zu Boden, um seine Malstifte zu schützen. Die Stiefelspitze traf ihn in der Seite und warf ihn in den Staub der zerriebenen Farben. Tolland kickte die Dose mit der Kreide wütend in den Rinnstein, drehte sich dann um und trat noch einmal nach dem Jungen. Montag rollte sich zusammen, kniff die Augen zu und erwartete neuerlichen Schmerz. Doch er spürte nichts. Die Stimme des Sanften erklang, überraschte Tolland und lenkte ihn ab.
    »Laß ihn in Ruhe«, sagte er.
    Er hätte einen Fluchtversuch unternehmen können, während Tollands Aufmerksamkeit allein Montag galt, aber er stand nach wie vor bei dem Bild und betrachtete nun nicht mehr die Figuren, sondern jenen Mann, der das Gesicht der gemalten Frau ruiniert hatte.
    »Zum Teufel auch, was hast du gesagt?« Tollands Mund wirkte wie eine mit Zähnen ausgestattete Wunde im verfilzten Bart.
    »Du sollst ihn... in... Ruhe... lassen.«
    Welchen Spaß auch immer Tolland an dieser Auseinandersetzung gehabt hatte - jetzt war es vorbei damit, und das wußten alle. Normalerweise wäre die Sache mit einem abgebissenen Ohr oder einigen gebrochenen Rippen zu Ende gegangen, aber nun wurde es wirklich ernst. Einigen Zuschauern fehlte der Mumm für das bevorstehende Spektakel, und sie wandten sich ab, schlichen fort. Selbst die Abgehärtetsten wichen einige Schritte zurück. Ihr Verstand mochte von Alkohol umnebelt oder dem Schwachsinn anheimgefallen sein, aber sie ahnten trotzdem, daß sich nun Entsetzliches anbahnte, etwas, das schlimmer war als normales 955

    Blutvergießen.
    Tolland trat auf den Sanften zu, griff in die Tasche und holte ein Messer hervor. Die Klinge war mehr als zwanzig Zentimeter lang und wies viele Kerben und Kratzer auf. Selbst der Ire schauderte, als er sie sah. Er hatte schon einmal gesehen, wie sich dieses Messer in das Fleisch eines Opfers bohrte, und die entsprechenden Erinnerungen ließen Übelkeit in ihm aufsteigen.
    Der Anführer hielt sich jetzt nicht damit auf, den Fremden zu verspotten oder ihn zu verfluchen - mit stummer Entschlossenheit stürmte er ihm entgegen. Offenbar wollte der Sanfte der Klinge gar nicht ausweichen - sein Blick glitt wieder zu den Kreidemustern. Sie waren wie die vielen Bilder in seinem Kopf beschaffen: Helligkeit, zu grauem Staub verschmiert. Doch irgendwo in dem Staub gab es einen Ort, der dem Hier ähnelte, eine Stadt aus Schmutz und Zorn, wo jemand oder etwas ihm nach dem Leben getrachtet hatte, so wie dieser Mann jetzt. Es existierte nur ein wichtiger Unterschied: Den Kopf jenes anderen Henkers hatte ein Feuer umlodert. Abgesehen davon präsentierte sich eine fast identische Situation - auch diesmal mußte er sich mit bloßen Händen verteidigen.
    Er hob sie nun. Sie waren ebenso zerkratzt wie Tollands Klinge; hier und dort bildete Blut dicke Krusten auf ihnen. Er streckte sie, wie so oft zuvor, holte Luft, wählte die rechte Hand und hob sie zum Mund - ohne den Grund dafür zu wissen.
    Das Pneuma flog, bevor der Anführer Gelegenheit erhielt, mit seinem Messer zuzustechen. Es traf ihn an der Schulter, mit solcher Wucht, daß er fiel und rücklings auf dem Boden landete. Einige Sekunden lang brachte er aus Verblüffung keinen Ton hervor. Dann tastete er nach der

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