Imagica
reines Glück in deinem Schoß liegt, aber ich habe ein zweihundert Jahre langes Zölibat hinter mir und dadurch vollkommen die Lust verloren. Wir können wie Bruder und Schwester zusammenleben. Wäre doch gar nicht so übel, oder?«
»Sicher«, erwiderte Jude und unterdrückte Ekel. »Ein interessanter Vorschlag.«
»Nun, du solltest unten auf mich warten, Kindchen. Ich muß hier noch einige Sachen erledigen. Es gilt, gewisse Rituale durchzuführen, die Vorschriften der Tradition zu beachten.«
»Wie du willst.«
Judith überließ Dowd seinen Angelegenheiten - worin auch immer sie bestanden - und eilte die Treppe hinunter. Es grollte jetzt nicht mehr im Keller, aber mit jeder Stufe wuchs die Hoffnung in ihr. Bestimmt war der Kerker nun offen. Gleich sah sie die Göttin, und was ebenso wichtig sein mochte: Gleich wird die Göttin mich sehen, fuhr es ihr durch den Kopf.
Zumindest in einem Punkt hatte Dowd recht: Oscars Tod kam auch für sie einer Befreiung gleich - dadurch trug sie nicht mehr den Fluch ihrer Schöpfung. Es wurde jetzt Zeit für sie, das eigene Ich kennenzulernen, ein neues Selbstbewußtsein zu entwickeln.
Als sie durch die Zimmer von Roxboroughs Haus ging und den Weg über die Kellertreppe fortsetzte, spürte sie eine Veränderung im Labyrinth der Bibliothek. Sie brauchte gar nicht nach dem Kerker zu suchen: Energie wogte in der Luft, trug sie dem Ziel entgegen. Kurz darauf sah Judith es: Die Mauer hatte sich in einen Schutthaufen aus Steinen und geborstenem Holz verwandelt. Der Auflösungsprozeß fand kein Ende. Weitere Ziegel rutschten und fielen, als der Mörtel zwischen ihnen bröckelte. Jude näherte sich dem Chaos und 980
erkletterte den Hügel, um einen Blick in die Kammer dahinter zu werfen. Finster war es dort, aber trotzdem bemerkte sie die Gefangene: Sie lag auf dem Boden, rührte sich nicht.
Judith trat auf sie zu, kniete neben der Reglosen und zupfte an den Schnüren, mit denen Roxborough und seine Helfer Celestine umwickelt hatten. Ihre Finger trachteten vergeblich danach, die Fesseln zu lösen, und daraufhin versuchte sie es mit den Zähnen. Der sonderbare Zwirn erwies sich als sehr widerstandsfähig, doch schließlich gab er den entschlossenen Bissen nach. Ein Zittern erfaßte den Körper - er schien die unmittelbar bevorstehende Freiheit zu erahnen. Auch in diesem Fall, wie bei der Mauer, hatte die Auflösung etwas Ansteckendes: Als die ersten Fäden zerrissen waren, gaben auch die anderen nach, und das Zittern des Körpers gewann an Intensität. Wie Peitschen schlugen die dünnen Stränge hin und her. Einer traf Judith an der Wange; sie wich zurück und beobachtete dabei, wie auch der Rest des Kokons brach.
Celestine erbebte nun, und die Schnüre... Sie zuckten nicht mehr ziellos hin und her, sie wuchsen statt dessen in alle Richtungen, zur Decke und zu den Wänden hin. Jude wollte nicht noch einmal getroffen werden, wich weiter zurück und verließ den Kerker, wankte durch das Loch in der Mauer und stolperte über Schutt.
Irgendwo in dem Labyrinth hinter ihr erklang Dowds Stimme.
»Was machst du hier, Kindchen?«
Die Wahrheit lautete: Sie wußte es nicht genau. Zwar hatte sie diesen Vorgang begonnen, doch nun fehlte ihr jeder Einfluß darauf. Die Fäden verfügten über einen eigenen Willen. Ganz gleich, wer sie bewegte, Celestine oder der magische Befehl Roxboroughs, Fremde von der Gefangenen fernzuhalten, ihre Befreiung zu verhindern: sie ließen sich jetzt nicht mehr unter Kontrolle bringen. Einige von ihnen tasteten nach dem Rand des Lochs und zerrten weitere Ziegel beiseite. Andere 981
offenbarten eine erstaunliche Elastizität, als sie hin und her krochen, über Steine, Holz und Bücher hinweg.
»O mein Gott«, ächzte Dowd. Judith drehte sich um - er stand im Korridor, ein halbes Dutzend Schritte hinter ihr, das Messer in der einen Hand und ein blutiges Taschentuch in der anderen. Zum erstenmal bekam sie nun Gelegenheit, ihn von Kopf bis Fuß zu betrachten, und ganz deutlich sah sie die Last des Zapfens. Er wirkte deformiert und entstellt: die Schultern schief, das linke Bein nach innen gekrümmt, als sei ein gebrochener Knochen falsch zusammengewachsen.
»Was befindet sich dort drin?« fragte er und humpelte an den Regalen vorbei. »Deine Freundin?«
»Komm nicht näher«, sagte Judith.
Er ignorierte sie. »Hat Roxborough etwas eingemauert? Man sehe sich nur die fadenartigen Dinger an... Handelt es sich um einen Oviaten?«
»Nein.«
»Um was dann?
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