Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
schenkte ihm keine Beachtung und trat an den Tisch 974

    heran.
    »Sein Leben hängt an einem seidenen Faden«, fuhr Dowd fort. »Wenn er bewegt wird... Dann fallen ihm die Eingeweide aus dem Leib. Laß ihn einfach liegen und genieße die Szene.«
    »Ich soll die Szene genießen?«, stieß Judith hervor. Abscheu überwältigte sie, und sie wußte, daß sie damit auf die von Dowd beabsichtigte Weise reagierte.
    »Nicht so laut, Teuerste«, mahnte er. »Sonst weckst du das Baby.« Dowd lachte leise. »Er ist ein Baby, wenn man ihn mit uns vergleicht. Ein so kurzes Leben...«
    »Warum hast du das getan?«
    »Wo soll ich mit der Erklärung beginnen? Bei den trivialen Gründen? Nein, ich nenne dir das wichtigste Motiv. Es ging mir um meine Freiheit.«
    Er beugte sich zu Jude vor, und im Licht der Lampe wirkte seine Miene wie ein kompliziertes Puzzle.
    »Nach seinem letzten Atemzug - und bis dahin dauert es nicht mehr lange - gibt es keine Godolphins mehr. Sein Tod bedeutet das Ende der Knechtschaft.«
    »In Yzordderrex warst du frei.«
    »Nein. Die Leine wurde nur etwas länger, wodurch ich zusätzlichen Bewegungsspielraum bekam. Trotzdem fühlte ich die Wünsche und Sorgen des Herrn. Ein Teil von mir wußte, daß ich bei ihm zu Hause sein sollte, um ihm Tee zu kochen, ihm zu Diensten zu sein. Tief im Innern meines Herzens blieb ich die ganze Zeit über sein Sklave!« Dowd starrte auf den Körper hinab. »Es ist fast ein Wunder, daß er noch lebt.«
    Er griff nach dem Messer.
    »Laß ihn in Ruhe!« sagte Judith scharf, und Dowd wich erstaunlich bereitwillig zurück.
    Sie trat noch etwas näher an den Tisch heran, wagte es jedoch nicht, Oscar zu berühren. Vielleicht genügte selbst ein sanfter Kontakt, um endgültig die Pforte des Todes für ihn zu öffnen. In seinem Gesicht zuckte es immer wieder, und die 975

    bleichen Lippen zitterten.
    »Oscar?« hauchte Judith. »Hörst du mich?«
    »Ach, wenn du dich nur selbst sehen könntest, Kindchen«, ließ sich Dowd vernehmen. »Wirst ganz rührselig. Hast du vergessen, daß er dich benutzte, daß er dir seinen Willen aufzwang?«
    Jude beugte sich vor. »Oscar?« fragte sie noch einmal.
    »Er hat uns nie geliebt«, sagte Dowd. »Wir waren nur Dinge für ihn, ein Teil seines...«
    Der Sterbende öffnete die Augen.
    »...Erbes.« Dowd raunte das letzte Wort und zog sich in den Schatten zurück, als Godolphin die Lider hob.
    Oscars fast weiße Lippen formten die Silben von Judiths Namen, aber es blieb alles still.
    »O Gott«, murmelte sie. »Hörst du mich? Du sollst folgendes wissen: Wir sind nicht umsonst hierhergekommen.
    Ich habe sie gefunden. Verstehst du? Ich habe sie gefunden.«
    Oscar deutete ein Nicken an. Mit quälender Langsamkeit befeuchtete er sich die Lippen und holte genug Luft, um folgende Worte hervorzubringen:
    »Es stimmt nicht...«
    Judith runzelte die Stirn.
    »Was stimmt nicht?« fragte sie.
    Erneut glitt die Zunge über blutleere Lippen, und das Gesicht verzerrte sich - das Sprechen strengte Oscar offenbar sehr an.
    »Erbe...«
    »Willst du mir mitteilen, daß ich kein Erbstück bin?«
    vergewisserte sich Judith. »Es ist mir längst klargeworden.«
    In Oscars Mundwinkeln zuckte es kurz - ein Lächeln -, und sein Blick glitt über die Züge der Frau, über Wangen, Nase und Mund, erreichte schließlich die Augen.
    »Ich habe... dich... geliebt«, sagte er.
    »Auch das weiß ich«, erwiderte Jude.
    Dann verloren seine Pupillen ihren Glanz. Das Herz in der 976

    offenen Brust klopfte nicht mehr, und das Gesicht erschlaffte.
    Oscar Godolphin war tot, gestorben auf dem Tisch der Tabula Rasa.
    Judith richtete sich auf und betrachtete den Leichnam kummervoll. Wenn sie jemals in Versuchung geraten sollte, mit der Dunkelheit des Todes zu spielen... Die Erinnerung an diesen Anblick genügte sicher, um sie zur Vernunft zu bringen.
    Sie sah nichts Erhabenes, nur Verschwendung.
    »Das war's«, kommentierte Dowd. »Seltsam. Ich spüre gar keinen Unterschied. Nun, vielleicht braucht es seine Zeit. Ich schätze, man muß die Freiheit lernen, so wie alles andere.« Er sprach immer schneller, und Judith hörte wachsende Verzweiflung in seiner Stimme. Er schien zu leiden. »Du solltest etwas wissen...«
    »Ich will nichts hören.«
    »Es ist wichtig, Kindchen... Er hat dies auch mit mir angestellt. Vor der ganzen Gruppe schnitt er mich auf. Es mag verkehrt sein, sich auf diese Weise zu rächen, aber wer kann schon Perfektion für sich in Anspruch nehmen? Jeder hat seine

Weitere Kostenlose Bücher