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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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des Dachs hob, beendete Gentle seine Erinnerungsversuche und ging zu Celestine. In ihrem Zimmer waren Meditationen leichter möglich als in dem Raum, den er gerade verlassen hatte: Dort begleiteten ihn ständig die Gedanken an Pie und gewannen manchmal eine solche Realität, daß er zu glauben begann, der Mystif sei tatsächlich zugegen, in Fleisch und Blut. Einige Kerzen brannten neben der Matratze, auf der die Befreite ruhte (sie stammten von Clem), und ihr Licht zeigte Gentle eine Frau, die so tief schlief, daß sie nicht einmal träumte. Sie war alles andere als ausgezehrt, doch die Züge wirkten irgendwie hart, als sei das Fleisch der Wangen auf dem besten Wege, sich in Knochen zu verwandeln. Gentle beobachtete seine Mutter eine Zeitlang und fragte sich, ob das eigene Gesicht irgendwann eine ähnliche Strenge annehmen würde. Nach einer Weile trat er zur Wand am Fußende des improvisierten Bettes, setzte sich dort hin und lauschte den langsamen, gleichmäßigen Atemzügen der Schlafenden.
    Hinter seiner Stirn herrschte ein wirres Durcheinander aus 107
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    jenen Dingen, die er im anderen Zimmer in Erfahrung gebracht hatte. Es existierten gewisse Parallelen zwischen der ihm vertraut gewordenen Magie und den Umständen der Rekonziliation: Eigentlich erforderte die Zusammenführung der Domänen keine sehr komplizierte oder umfangreiche Zeremonie. Die meisten dominanten Religionen in der Fünften nutzten Rituale, um die Gläubigen über einen eklatanten Mangel an Wissen und Verstehen hinwegzutäuschen - die Liturgie, Requiems, Gesänge und Sakramente dienten dazu, jene winzigen Erkenntnisfetzen festzuhalten, die sich wahrhaft heiligen Menschen offenbarten. Aber ein derart theatralisches Gebaren war überhaupt nicht nötig, wenn die Priester über echte Macht verfügten. Mit Hilfe der Erinnerungen mochte Gentle durchaus imstande sein, solche Macht für sich zu beanspruchen.
    Das Prinzip der Rekonziliation war nicht sehr schwer zu verstehen. Alle zweihundert Jahre entwickelte das In Ovo eine Art Blüte: einen Lotos mit fünf Blättern, der für kurze Zeit im Unheil schwamm, ohne davon beeinflußt zu werden. Für dieses Sanktuarium gab es viele verschiedene Namen, doch der gebräuchlichste lautete Ana. Dort versammelten sich die Maestros und brachten die Analoga der von ihnen repräsentierten Domänen mit. Sobald die einzelnen Teile zusammengefügt wurden, bekam der Vorgang ein eigenes Bewegungsmoment. Die Analoga vereinten sich, nahmen die Kraft des Ana in sich auf, trieben damit das In Ovo zurück und schufen eine Verbindung zwischen allen fünf Domänen.
    »Alles strömt dem Erfolg entgegen«, entsann sich Gentle an eine weitere Weisheit des Mystifs. »Ein natürlicher Instinkt veranlaßt Zerbrochenes, wieder heil zu werden. Auch Imagica ist zerbrochen - bis zur Rekonziliation.«
    »Aber warum gab es so viele Fehlschläge?« hatte Gentle damals gefragt.
    »Es sind nicht so viele Rekonziliationsversuche unternom-1077

    men worden, wie du glaubst«, erwiderte Pie. »Und ihr Mißerfolg ging in jedem Fall auf äußeres Einwirken zurück.
    Christos erlag der Politik. Pineo fiel dem Vatikan zum Opfer.
    Immer durchkreuzten Leute von außerhalb die Pläne der Maestros. Wir haben keine solchen Feinde.«
    Ironische Worte, in der Rückschau betrachtet. Noch einmal konnte sich Gentle eine solche Selbstzufriedenheit nicht leisten, und dafür gab es zwei Gründe: der Umstand, daß Sartori noch lebte; und Pie'oh'pah letztes, von Verzweiflung bestimmtes Erscheinen an der Grenze zwischen der Ersten und Zweiten Domäne.
    Es war sinnlos, jenes Erinnerungsbild noch länger zu betrachten. Er verdrängte es und wandte seine Aufmerksamkeit statt dessen Celestine zu. Es fiel ihm schwer, seine Mutter in ihr zu sehen. Vielleicht enthielt das Haus auch irgendwelche vagen Erinnerungen daran, ein Säugling in ihren Armen gewesen zu sein, mit einem zahnlosen Mund an ihren Brüsten gesaugt zu haben? Doch wenn derartige Reminiszenzen existieren, so entzogen sie sich ihm. Vielleicht trennten ihn zu viele Jahre, zu viele Leben und Frauen von jener Wiege. Er fühlte Dankbarkeit dafür, daß sie ihn zur Welt gebracht hatte, aber intensivere Emotionen ihr gegenüber zu empfinden, sah er sich außerstande.
    Es dauerte nicht lange, bis eine sonderbare Art von Kummer herankroch, eine Mischung aus Niedergeschlagenheit und Enttäuschung. Wie eine Leiche lag Celestine da, und er sah sich selbst in der Rolle eines pflichtbewußten Trauergastes, dem echte

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