Imagica
frei.«
Widerstrebend hob die Frau den Fuß, nur ein oder zwei Zentimeter, und Dunkles Loch kroch eilig darunter hervor.
Sofort griff er nach der Hand des Rekonzilianten.
»Ich gehöre dir, Liberatore«, verkündete er und preßte die Stirn an Gentles Finger. »Mein Kopf ruht in deinen Händen.
Bei Hyo, Heratea und Hapexamendios - ich überantworte dir mein Herz.«
»Ich nehme dein Angebot an.« Gentle erhob sich.
»Was soll ich jetzt tun, Liberatore?«
»Das Zimmer am Ende der Treppe... Warte dort auf mich.«
»Für immer und ewig.«
»Einige Minuten genügen.«
Das Geschöpf wich zur Tür zurück und verbeugte sich mehrmals. Dann drehte es sich um - und stob davon.
»Wie kannst du einem solchen Wesen trauen?« fragte Judith.
»Ich traue ihm nicht. Zumindest noch nicht.«
»Aber du willst es versuchen.«
»Man ist verdammt, wenn man nicht verzeihen kann, Jude.«
»Du wärst sogar imstande, Sartori zu verzeihen, wie?« fragte sie.
»Er ist ich«, erwiderte Gentle. »Er ist mein Bruder und mein Sohn. Wie könnte ich ihm nicht verzeihen?«
2
Als dasHaus Sicherheit bot, kamen auch die anderen herein.
Montag erlag den Neigungen des Plünderers und brach auf, um in Nachbarhäusern nach nützlichen Dingen zu suchen, die vielleicht ein wenig Komfort ermöglichten. Dreimal kehrte er mit Beute zurück, und als er zum vierten Mal verschwand, 1071
begleitete ihn Clem. Nach einer halben Stunden kamen sie wieder, mit zwei Matratzen und einem Haufen Bettwäsche, die zu sauber war, um von irgendeinem Müllhaufen zu stammen.
»Ich habe den Beruf verfehlt«, sagte Clem, und sein Gesicht zeigte Taylors schalkhafte Miene. »Ich hätte kein Bankange-stellter werden sollen, sondern Einbrecher.«
Montag bat Judith, ihr den Wagen zu leihen - er wollte zur South Bank fahren und jene Sachen holen, die er in der Eile zu-rückgelassen hatte. Sie gab ihm die Schlüssel und wies den Jungen darauf hin, daß er sich nicht zuviel Zeit nehmen solle.
Zwar war es noch hell draußen, aber wenn die Dunkelheit der Nacht das Licht des Tages verdrängte, brauchten sie möglichst viele starke Arme, um das Haus zu verteidigen. Clem hatte Celestine im einstigen Eßzimmer untergebracht; dort lag nun die größere der beiden Matratzen. Er blieb bei ihr sitzen, bis sie einschlief. Als er den Raum schließlich verließ, schien sich Taylor tiefer in ihn zurückgezogen zu haben. Ein ruhiger, gelassener Mann trat Judith an der Treppe entgegen.
»Schläft sie?« fragte Jude.
»Ich weiß nicht, ob es sich um Schlaf oder Koma handelt.
Wo befindet sich Gentle?«
»Er ist oben und plant.«
»Ihr habt euch gestritten?«
»Manche Dinge ändern sich nie. Nicht einmal dann, wenn der Wandel die ganze Welt erfaßt.«
Mehrere Flaschen Bier standen auf der Treppenstufe; Clem öffnete eine und trank mit Genuß.
»Weißt du, manchmal frage ich mich, ob dies alles nur eine Halluzination ist. Bestimmt verstehst du manches viel besser als ich; immerhin hast du die anderen Domänen gesehen, und daher kann für dich kein Zweifel an ihrer Existenz bestehen.
Aber als ich mit Montag unterwegs war... Einige Straßen entfernt begegneten wir ganz normalen Leuten, und sie gingen wie an einem ganz normalen Tag über die Bürgersteige. Ich 107
2
dachte an eine Frau, die eine zweihundert Jahre lange Gefangenschaft überlebt hat, an ihren Sohn, dessen Vater ein Gott ist, von dem ich noch nie zuvor etwas gehört habe...«
»Er hat dir also davon erzählt?«
»Ja. Nun, als mir solche Gedanken durch den Kopf gingen...
Sie weckten den Wunsch in mir, nach Hause zurückzukehren und einfach alles zu vergessen.«
»Was hinderte dich daran?«
»Vor allem Montag. Er wird einfach mit allem fertig. Und hinzu kommt Tay - der in mir ist. Inzwischen fühlt es sich so an, als sei er schon seit vielen Jahren in meinem Bewußtsein.«
»Vielleicht täuscht dieser Eindruck nicht«, sagte Judith. »Ist noch Bier da?«
»Ja.«
Er reichte ihr eine Flasche, und Jude folgte Clems Beispiel und öffnete sie an der Treppenstufe. Schaum quoll aus ihr hervor.
Sie trank einige Schlucke. Dann fragte sie: »Warum möchtest du weglaufen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Clem. »Vielleicht fürchte ich mich vor dem, was sich anbahnt. Aber das ist ziemlich dumm, oder? Wir erleben hier den Anfang von etwas Wunderbarem.
Tays Prophezeiung erfüllt sich: Licht kommt in die Welt, und sein Ursprung ist ein Ort, von dem wir bisher nicht einmal zu träumen wagten. Wir sind Zeugen der
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