Imagica
begann immer auf die gleiche Weise. Meine Mutter sagte: Ich möchte, daß du dich an etwas erinnerst. Und dann sprach sie folgende Worte: Es war einmal eine Frau namens Nisi Nirwana. Und sie begab sich in eine Stadt voller Greuel...«
Gentle hörte die Geschichte noch einmal, diesmal von den eigenen Lippen. Die Frau, die Stadt; das Verbrechen; das Kind.
Und anschließend begann die Geschichte erneut: Frau, Stadt, Verbrechen...
»Normalerweise erzählt man Kindern nicht von Vergewaltigung und dergleichen«, kommentierte Pie'oh'pah.
»Dieses Wort hat sie nicht benutzt.«
»Aber das ist mit dem ›Leid‹ gemeint, oder?«
»Ja«, bestätigte der Maestro leise und spürte dabei, wie sich das Unbehagen in ihm verstärkte. Es handelte sich um das Geheimnis seiner Mutter, um ihre ganz persönliche Pein. Aber es stimmte natürlich. Nisi Nirwana war Celestine, und die Stadt der Greuel entsprach der Ersten Domäne. Sie hatte ihrem Sohn die eigene Geschichte erzählt, in Form eines düsteren Märchens. Und damit noch nicht genug: Sie hatte Erzählerin und Zuhörer direkt an der Geschichte beteiligt und dadurch einen in sich geschlossenen Kreis geschaffen, aus dem es kein Entkommen gab. Das Gefühl, gefangen zu sein... War es der Grund dafür, warum Gentle als Kind eine derartige Beklemmung gefühlt hatte?
Pie entwickelte eine ganz andere Theorie und formulierte sie über die Kluft der Jahre hinweg.
»Kein Wunder, daß du dich gefürchtet hast«, sagte der Mystif. »Deine Mutter erzählte von einem schrecklichen Verbrechen, ohne Einzelheiten zu nennen. Sie meinte es bestimmt nicht böse, aber sie hat deine Fantasie stimuliert.«
Gentle antwortete nicht. Er konnte garkeine Antwort geben.
Bei diesen Unterredungen mit Pie geschah es nun zum erstenmal, daß er mehr wußte als damals, und die 108
4
Diskontinuität zersplitterte den Spiegel der Vergangenheit.
Sofort prickelte das Gefühl in ihm, einen Verlust erlitten zu haben, und dieses Empfinden gesellte sich dem Kummer hinzu, der ihn ins Meditationszimmer begleitet hatte. Die Geschichte von Nisi Nirwana schien jenes Selbst, das vor zweihundert Jahren an diesem Ort geweilt hatte - ohne es zu wissen, daß es Gottes Sohn verkörperte -, von dem Mann zu trennen, der er jetzt war. Von einem Mann, der die Geschichte von Nisi Nirwana als Geschichte seiner Mutter erkannte, als Bericht von einem Verbrechen, dem er die eigene Existenz verdankte. Nach dieser Sache war es nicht mehr nötig, in der Vergangenheit nach Erkenntnissen zu suchen. Er besaß jetzt alle notwendigen Informationen über die Rekonziliation, und es gab keine Rechtfertigung dafür, noch länger herumzutrödeln. Es wurde Zeit, den Trost der Erinnerungen aufzugeben, darauf zu verzichten, weitere Gespräche mit Pie zu führen.
Er griff nach der Flasche Bier und streifte den Verschluß ab.
Sicher war es nicht sehr klug, ausgerechnet jetzt Alkohol zu trinken, aber er wollte noch einmal der Vergangenheit zuprosten, bevor sie sich verflüchtigte. Hatte er irgendwann einmal mit dem Mystif angestoßen? Konnte er einen solchen Augenblick jetzt noch einmal heraufbeschwören, um das Gewesene zu verabschieden? Gentle führte die Flasche zu den Lippen, und als er trank, hörte er Pies Stimme. Er hob den Kopf und sah den Mystif, dessen Gestalt bereits verblaßte: Er hielt kein Glas in der Hand, sondern eine Karaffe, und stieß damit auf die Zukunft an. Der Rekonziliant hob die Flasche Bier zur Karaffe - zu spät. Die Vision verlor memoriale Substanz und verblaßte, bevor Vergangenheit und Gegenwart den letzten Gruß zu teilen vermochten. Es wurde Zeit, zu beginnen.
Unten erklang Montags laute Stimme - der Junge war zurück. Gentle stellte die Flasche auf den Kaminsims und verließ das Zimmer, um festzustellen, was die Aufregung zu 1085
bedeuten hatte. Montag stand an der Tür und beschrieb Clem und Judith, wie es in der Stadt zuginge. Einen so seltsamen Samstagabend hätte er nie zuvor erlebt, meinte er. Die Straßen seien praktisch leer; das wechselnde Licht der Ampeln regelte einen Verkehr, der überhaupt nicht existierte.
»Dann haben wir eine problemlose Fahrt vor uns«, sagte Jude.
»Eine Fahrt?« erkundigte sich der Junge. »Wohin?«
Sie erklärte es ihm, und er lächelte erfreut.
»Mir gefällt es auf dem Land«, kommentierte er. »Dort kann man's richtig rundgehen lassen. Niemand macht einem Vorschriften.«
»Wir sollten versuchen, lebend zurückzukehren«, mahnte Judith. »Gentle verläßt sich auf
Weitere Kostenlose Bücher