Imagica
innere Anteilnahme fehlte. Er stand auf und beschloß, das Zimmer zu verlassen, doch neben der Matratze verharrte er noch einmal und bückte sich, um die Schlafende an der Wange zu berühren. Seit dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahrzehnten hatte er keinen physischen Kontakt dieser Art hergestellt, und vielleicht war dies die letzte Gelegenheit. Er spürte keine kalte Haut, wie er erwartet hatte, 107
8
sondern Wärme, und seine Hand verweilte länger als beabsichtigt auf dem Leib der Mutter. Zwar schlief sie tief und fest, aber sie schien die Berührung trotzdem zu bemerken.
Vielleicht träumte sie nun von ihm. Die strengen Züge wurden sanfter, und blasse Lippen formulierten ein Wort:
»Sohn?«
Gentle wußte nicht, ob er Antwort geben sollte, doch nach einigen Sekunden wiederholte Celestine die Frage, und daraufhin erwiderte er:
»Ja. Mutter?«
»Wirst du bestimmt nicht vergessen, was ich dir gesagt habe?«
Was nun? dachte Gentle. »Ich... weiß es nicht genau«, entgegnete er behutsam.
»Soll ich es noch einmal wiederholen? Ich möchte, daß du dich daran erinnerst.«
»Ja, Mutter. Wiederhole es noch einmal. Bitte.«
Celestines Lippen zeigten den Hauch eines Lächelns, und sie begann mit einer Geschichte, die sie vermutlich schon oft erzählt hatte.
»Es war einmal eine Frau namens Nisi Nirwana...«
Sie hatte gerade erst begonnen, als der Traum zu verblassen schien. Die Gedanken der Frau glitten zurück in die Dunkelheit des komaartigen Schlafs, und ihre Stimme wurde zu einem Flü-
stern, das ganz zu verklingen drohte.
»Hör nicht auf, Mutter«, sagte Gentle rasch. »Ich möchte die Geschichte noch einmal hören. Es war einmal eine Frau...«
»Ja...«
»...namens Nisi Nirwana.«
»Ja. Und sie begab sich in eine Stadt voller Greuel, wo kein Geist heilig war und kein Fleisch heil. Und dort erfuhr sie großes Leid...«
Die Stimme gewann nun an Kraft und Lautstärke, doch der Hauch des Lächelns verflüchtigte sich.
1079
»Welche Art von Leid meinst du, Mutter?«
»Das brauchst du jetzt noch nicht zu wissen, Sohn. Eines Tages bekommst du Antwort, und dann wünschst du dir vielleicht, nie gefragt zu haben. Nur soviel will ich dir sagen: Es ist ein Leid, das allein Männer einer Frau zufügen können.«
Gentle beugte sich vor. »Wer fügte es ihr zu?«
»Hast du nicht gehört, Sohn? Ein Mann.«
»Ja, aber welcher Mann?«
»Sein Name spielt keine Rolle. Wichtig ist nur: Die Frau entkam ihm und kehrte in ihre eigene Stadt zurück. Böses hatte man ihr angetan, und sie wollte es in etwas Gutes verwandeln.
Und weißt du, worin das Gute bestand?«
»Nein, Mutter.«
»Aus einem Baby. Aus einem hübschen, gesunden Baby. Sie liebte es so sehr, daß es wuchs und immer größer wurde. Eines Tages, so wußte die Frau, würde ihr Sohn sie verlassen, und deshalb sagte sie zu ihm: ›Bevor du gehst, möchte ich dir eine Geschichte erzählen.‹ Und weißt du, wie die Geschichte lautete? Ich möchte, daß du dich daran erinnerst, Sohn.«
»Wie lautete sie?«
»Es war einmal eine Frau namens Nisi Nirwana. Und sie begab sich in eine Stadt voller Greuel...«
»Das ist die gleiche Geschichte, Mutter.
»...wo kein Geist heilig war...«
»Du hast die erste Geschichte noch nicht beendet«, wandte Gentle ein.
»...und kein Fleisch heil. Und dort erfuhr sie großes Leid...«
»Hör auf, Mutter. Bitte, hör auf.«
»Die Frau entkam...«
Diese Art von Wiederholung bereitete Gentle Unbehagen, und er nahm die Hand von der Wange seiner Mutter. Zunächst sprach sie weiter und präsentierte die gleiche Geschichte: Flucht aus der Stadt; Verwandlung des Bösen in etwas Gutes; das Baby, das hübsche, gesunde Baby... Aber jetzt spürte 108
0
Celestine nicht mehr die Finger des Sohns, und sie sank zurück in die finsteren Tiefen des traumlosen Schlafs. Ihre Stimme wurde undeutlicher. Gentle stand auf und wich zur Tür zurück, als sich der Kreis einmal mehr schloß.
»...und deshalb sagte sie zu ihm: ›Bevor du gehst, möchte ich dir eine Geschichte erzählen...‹«
Gentle streckte die Hand nach hinten, ertastete den Knauf und öffnete die Tür, während er auch weiterhin seine Mutter beobachtete.
»Und weißt du, wie die Geschichte lautete?« brachte sie undeutlich hervor. »Ich möchte... daß... du... dich... daran...
erinnerst... Sohn.«
Sein Blick galt noch immer der Frau im Zimmer, als er in den Flur trat. Die letzten Worte, die er hörte, wären für jemand anders unverständlich und sinnlos
Weitere Kostenlose Bücher