Imagica
sie. »Du kannst es dir nicht leisten, mich zu verlieren. Ich bin dein letztes Publikum, und das weißt du. Wenn du darauf verzichtest, mir die Geschichte zu erzählen, so wird sie niemand hören . Zumindest niemand diesseits der Hölle.«
Der Mann nickte langsam.
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»Ja, das stimmt«, gestand er ein.
»Und deshalb: Bring es hinter dich. Teile die Last des Wissens mit mir.«
Dowd holte mühsam Luft und begann:
»Ich habe Ihn einmal gesehen. Den Vater von Imagica. Er kam zu mir in der Wüste.«
»Er präsentierte sich dir in Fleisch und Blut?« fragte Judith skeptisch.
»Nein. Er sprach aus der Ersten Domäne zu mir. Aber meinen Augen boten sich Anhaltspunkte dar, in der Rasur...«
»Wie sah Er aus?«
»Wie ein gewöhnlicher Mann, soweit ich das erkennen konnte.«
»Vielleicht hat dir deine Fantasie einen Streich gespielt.«
»Vielleicht«, räumte Dowd ein. »Aber Er sprach zu mir, und das habe ich mir nicht eingebildet.«
»Er gab dir den Auftrag, ihm eine Frau zu besorgen«, sagte Judith. »Das hast du mir schon einmal erzählt.«
»Hör dir auch den Rest an.« Dowd atmete rasselnd. »Er gab mir einen winzigen Teil Seiner Kraft, damit ich das In Ovo durchqueren und die Fünfte erreichen konnte. Überall in London suchte ich nach einer Frau, die Seine heilige Gunst empfangen sollte.«
»Und deine Wahl fiel auf Celestine.«
»Ja. Ich fand sie in Tyburn - sie sah dort bei einer öffentlichen Hinrichtung zu. Ich weiß nicht, warum ich mich für sie entschied. Vielleicht weil sie lachte, als der Verurteilte am Strang baumelte und strampelte. Ich dachte mir: Diese Frau ist alles andere als empfindlich; sie wird nicht schluchzen und jammern, wenn man sie in eine andere Domäne bringt. Sie war nicht im eigentlichen Sinne schön, aber so etwas wie Klarheit haftete ihr an. Verstehst du? Manche Schauspielerinnen sind damit ausgestattet, zumindest die guten und begabten. Bei Celestine erkannte ich ein Gesicht, das extreme Gefühle zum 1097
Ausdruck bringen konnte, ohne dabei lächerlich zu wirken, ohne falsches Pathos zu zeigen. Vielleicht habe ich mich damals in sie verliebt...« Dowd schauderte. »Dazu war ich in meiner Jugend fähig. Nun... Ich stellte mich vor und bot an, ihr etwas Fantastisches zu zeigen, etwas, das sie nie vergessen würde. Zunächst weigerte sie sich, mich zu begleiten, aber damals hatte ich eine Menge Überzeugungskraft, und außerdem stand mir göttlicher Zauber zur Verfügung.
Gemeinsam brachen wir zu einer langen Reise auf: Vier Monate lang durchquerten wir die Domänen, bis wir endlich zur Rasur gelangten...«
»Was geschah dort?«
»Die Grenze zwischen der Ersten und Zweiten Domäne öffnete sich.«
»Und?«
»Ich sah die Stadt Gottes.«
Judith fühlte sich fast gegen ihren Willen fasziniert.
»Beschreib sie mir«, sagte sie.
»Ich konnte nur einen kurzen Blick darauf werfen...«
Bisher hatte es Jude abgelehnt, sich ihm ganz zu nähern.
Jetzt trat sie auf ihn zu und bückte sich, bis sie nur noch wenige Zentimeter von dem zerfetzten Gesicht trennten.
»Beschreib mir die Stadt.«
»Riesig war sie, und sie glänzte und gleißte.«
»So wie Gold?«
»Alle Farben leuchteten dort. Aber wie gesagt: Es war nur ein kurzer Blick. Plötzlich schienen die Mauern zu platzen -
etwas streckte sich Celestine entgegen und brachte sie fort.«
»Was war es?«
»Ich habe immer wieder versucht, mich daran zu erinnern.
Manchmal glaube ich, daß eine Art Netz kam, oder eine Wolke. Ich weiß es nicht genau. Was auch immer es gewesen sein mag: Es nahm Celestine mit.«
»Du hast natürlich versucht, ihr zu helfen«, sagte Judith.
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»Nein«, widersprach Dowd. »Ich habe mir aus Angst in die Hose geschissen und bin geflohen. Wie hätte ich ihr helfen können? Sie gehörte dem Allmächtigen. Sie erfuhr göttliche Barmherzigkeit.«
»Sollte sie sich deiner Ansicht nach über Entführung und Vergewaltigung freuen?«
»Ja, sie wurde entführt und vergewaltigt«, gab Dowd zu.
»Aber dadurch bekam sie auch etwas Heiliges. Ich hingegen durfte nur die schmutzige Arbeit erledigen.«
»Die schmutzige Arbeit eines Kupplers und Zuhälters.«
»Ja. Außerdem: Celestine erhielt die Chance, Vergeltung zu üben. Sieh nur, was sie mit mir angestellt hat!«
Judith starrte auf Dowd hinab - in diesem Punkt konnte sie ihm nicht widersprechen. Oscar und Quaisoir hatten vergeblich versucht, dieses Wesen umzubringen, doch Celestines Macht löschte das Licht des Lebens in ihm.
»Das ist
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