Imagica
standen an der Straße und sahen zum Himmel hoch. Das Phänomen ließ allmählich nach, als sie sich weiter von der Innenstadt - oder Clerkenwell? - entfernten, doch im Bereich des Ortes Yoke machte es sich erneut bemerkbar. Judith erinnerte sich an das 1091
Unwetter, an die Flucht durch den strömenden Regen, an das Postamt. Als sie nun noch einmal jene Straßen sah, durch die sie während des Wolkenbruchs gelaufen waren, entsann sie sich an eine naive Absicht, mit der sie zur Fünften zurückgekehrt war: Sie hatte eine feste Bindung zwischen sich selbst und Gentle schaffen wollen. Für solche Hoffnungen gab es jetzt keine Basis mehr: Sie trug das Kind des Feindes unter dem Herzen. Die zweihundert Jahre lange Beziehung mit Gentle war endgültig vorbei.
Die Vegetation des Anwesens bildete inzwischen einen regelrechten Dschungel, und man brauchte mehr als nur einen Stock, um das Tor zu erreichen. Zwar wucherte es überall, doch die Pflanzen erweckten den Eindruck, ebenso schnell zu verfaulen wie zu wachsen; sie schienen gar keine Zeit zu haben, um Blüten zu entwickeln. Montag hieb mit seinem Messer nach links und rechts und schuf auf diese Weise eine Schneise, die es ihnen erlaubte, erst zum Tor zu gelangen und dann in den verwilderten Park dahinter. Um diese Zeit hätten Motten und Eulen unterwegs sein sollen, doch hier wimmelte es von Leben, wie man es für gewöhnlich nur am Tag erwartete. Vögel flogen wie orientierungslos hin und her, sie schienen vergessen zu haben, wo sich ihre Nester befanden.
Mücken, Bienen, Libellen und die vielen anderen Spezies eines Sommertages summten im und über dem vom Mondschein erhellten Gras. Diesen Geschöpfen ging es wie den Menschen auf den Straßen. Sie spürten, daß sich etwas anbahnte, und deshalb fanden sie keine Ruhe.
Jude fand sich sofort zurecht - Dickicht und Nacht versuchten vergeblich, sie zu verwirren. Entschlossen und zielstrebig ging sie in Richtung Zuflucht. Der Boden war weich, fast schlammig, das Gras hoch, und dadurch kam sie nicht ganz so schnell voran, wie sie es sich wünschte. Montag pfiff wieder, ohne dabei auf irgendeine Melodie zu achten.
»Weißt du, was morgen geschehen wird?« fragte Judith. Sie 109
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beneidete ihren Begleiter um seine Gelassenheit.
»Ich glaube schon«, erwiderte er. »Tja, es gibt mehrere verschiedene Himmel, und der Boß öffnet sie für uns. Eine tolle Sache.«
»Hast du überhaupt keine Angst?«
»Wovor sollte ich Angst haben?«
»Alles ändert sich.«
»Gut«, sagte der Junge. »Ich hab's satt zu sehen, wie die Dinge derzeit beschaffen sind.«
Daraufhin pfiff er wieder, und sie stapften weiter durchs hohe Gras. Nach etwa hundert Metern erklang ein Geräusch, das Montag zum Schweigen brachte.
»Hör zu«, flüsterte Judith.
Die Aktivität in Luft und Gras hatte immer mehr zugenommen, als sie sich der Zuflucht näherten. Doch da ihnen der Wind nicht entgegenblies, hörten sie das Chaos erst jetzt.
»Vögel und Bienen«, sagte Montag. »Und zwar ziemlich viele.«
Sie setzten den Weg fort, und bald wurde das Ausmaß der Versammlung weiter vorn klar. Zwar reichte der Mondschein nicht sehr weit durchs Blätterdach der Baumwipfel, doch es konnte kein Zweifel daran bestehen: Hier hockten Vögel auf allen Ästen und Zweigen, selbst auf den kleinsten. Ein unverkennbarer Geruch ging von ihnen aus, und das Zwitschern des gewaltigen Schwarms wurde zu einem Getöse.
»Gleich regnet's Vogelkacke«, prophezeite Montag. »Oder die Bienen fallen über uns her und stechen uns zu Tode.«
Die Insekten formten einen lebenden Vorhang zwischen ihnen und dem Gebäude. Schon nach wenigen Sekunden stellte sich heraus: Es hatte keinen Sinn, um sich zu schlagen und zu versuchen, die Bienen zu verscheuchen - es waren einfach zu viele. Statt dessen konzentrierten sie sich darauf, die Barriere möglichst schnell zu passieren. Jetzt hockten auch Vögel im Gras; vielleicht gab es für sie keinen Platz im Geäst der 1093
Bäume. Judith und Montag liefen nun, und vor ihnen flatterten die gefiederten Geschöpfe empor. Ihr Kreischen alarmierte die Artgenossen auf den Zweigen, und praktisch von einem Augenblick zum anderen stieg der ganze Schwarm auf. Die Bewegung beschränkte sich nicht nur auf die Vögel, sondern schien auch alles andere zu erfassen - die ganze Welt bebte.
Judith und Montag eilten weiter und erlebten dabei einen doppelten Regen: Der eine war grün und bestand aus herabfallenden Blättern, der andere wandte sich dem Himmel
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