Imagica
Stimme ließ immer mehr nach; das knisternde Wispern des Feuers war jetzt lauter als sein Flü-
stern. »Weil ich glaube, daß nur du den Rekonzilianten daran hindern kannst, seine Pläne zu verwirklichen.«
Bei den letzten Worten löste sich seine Hand von Judiths Arm.
»Nun...«, ächzte er. »Das habe ich hinter mich gebracht...«
Die Lider sanken herab.
»Da wäre noch etwas, Kindchen...«
»Ja?«
»Vielleicht bitte ich um zuviel...«
»Was willst du?«
»Könntest du mir vielleicht... verzeihen? Ich weiß, es klingt absurd, aber ich möchte nicht mit deiner Verachtung sterben...«
Jude dachte daran, wie grausam er Quaisoir gegenüber gewesen war, als sie sich Erbarmen erhoffte. Er raunte erneut, als sie zögerte: »Wir sind uns... ähnlich gewesen...«
Sie streckte die Hand aus, um ihm ein wenig Trost anzubieten, doch bevor ihn ihre Finger berührten, zischte der letzte Atem aus ihm heraus, und die Augen schlossen sich für immer. Judith stöhnte. Wider aller Vernunft hatte sie das Gefühl, einen Verlust erlitten zu haben.
»Stimmt was nicht?« fragte Montag.
Sie stand auf. »Kommt ganz darauf an, aus welchem Blickwinkel man die Sache betrachtet«, erwiderte sie und lieh sich etwas von der Ironie des Toten. Während der nächsten Stunden konnte sie so etwas gut gebrauchen. »Hast du eine Zigarette für mich?« fragte sie den Jungen.
Montag holte ein zerknittertes Päckchen hervor und warf es 110
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ihr zu. Sie nahm eine Zigarette, trat ans Feuer und griff nach einem glühenden Zweig, um damit den Tabak zu entzünden.
»Was ist mit dem Burschen passiert?«
»Das Leben hat ihn verlassen.«
»Und was machen wir jetzt?«
Es war nicht leicht, diese Frage zu beantworten. Bisher hatte Judith einen Weg beschritten, der in eine ganz bestimmte Richtung führte, doch nun stand sie an einer Abzweigung, die eine überaus wichtige Entscheidung von ihr verlangte: Sollte sie die Rekonziliation verhindern - das fiele ihr sicher nicht schwer; die notwendigen Steine ruhten hier auf beziehungsweise im Boden -, um deshalb von der Geschichte verurteilt zu werden? Oder sollte sie nichts dagegen unternehmen, und dadurch das Ende von Geschichte und Zukunft riskieren?
»Wie lange dauert's bis zur Morgendämmerung?« wandte sie sich an Montag.
Seine Armbanduhr stammte aus der Beute, die er nach dem ersten Ausflug zum Haus in der Gamut Street zurückgebracht hatte. Er warf nun einen stolzen Blick darauf. »In zweieinhalb Stunden.«
Es blieb nur wenig Zeit, um zu handeln, und noch weniger, um zu entscheiden. Eines stand fest: Die Rückkehr mit Montag nach Clerkenwell kam einer Sackgasse gleich. Gentle nahm bei dieser Sache die Interessen des Unerblickten wahr, und er würde sich wohl kaum von den Angelegenheiten seines Vaters ablenken lassen - erst recht nicht, wenn es dabei um die Mahnungen eines Mannes wie Dowd ging, der sein ganzes Leben lang ein Feind der Wahrheit gewesen war. Vermutlich würde er darauf hinweisen, daß Dowds Behauptungen der Rache an den Lebenden gleichkamen: der letzte verzweifelte Versuch, einen Ruhm zu verderben, an dem er nicht teilhaben konnte. Vielleicht stimmt das sogar, dachte Judith. Vielleicht bin ich auf ihn hereingefallen.
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»Sammeln wir nun die Steine ein?« fragte Montag.
»Deshalb sind wir hier, nicht wahr?« erwiderte Judith.
»Wozu dienen sie?«
»Sie sind wie... Trittsteine oder ein Sprungbrett«, sagte Jude.
Ihre Stimme wurde leiser, während sie erneut überlegte.
Trittsteine oder ein Sprungbrett... Eine Möglichkeit, nach Yzordderrex zurückzukehren. Und dort mochte sie Rat finden, um ihre endgültige Entscheidung zu treffen.
Sie warf die Zigarette in die Asche des Feuers.
»Du mußt die Steine allein zur Gamut Street bringen, Montag.«
»Und du?«
»Ich begebe mich nach Yzordderrex.«
»Warum?«
»Es ist schwer zu erklären. Wie dem auch sei: Schwör mir, daß du dich ganz genau an meine Anweisungen hältst.«
»Ich schwör's«, entgegnete der Junge sofort.
»Na schön. Hör gut zu. Ich möchte, daß du die Steine zum Haus in der Gamut Street bringst, zusammen mit einer Nachricht. Sie ist für Gentle bestimmt. Für ihn persönlich, verstehst du? Vertrau sie niemand anderem an, nicht einmal Clem.«
»In Ordnung«, sagte Montag. Er strahlte und freute sich offenbar über diese unerwartete Ehre. »Was soll ich ihm ausrichten?«
»Sag ihm, welchen Ort ich aufgesucht habe.«
»Yzordderrex.«
»Ja. Und sag ihm...« Judith zögerte kurz. »Sag ihm, die
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