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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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postapokalyptischen Festes hin - Wasser tanzte, Kinder lachten, die Luft schimmerte bunt -, und in den Korridoren am Rand des überfluteten Beckens verstärkte sich dieser Eindruck. Auch dort gab es Kinder, und ihr Lachen klang noch melodischer. Keins war älter als fünf Jahre, und die Menge bestand nicht nur aus Mädchen, sondern auch aus Jungen. Sie verwandelten die Flure in Spielplätze, und ihr Lärm hallte von Wänden wider, die solche Freude nie gehört hatten. Natürlich fehlte es nicht an Wasser. Überall existierten Pfützen, Rinnsale oder kleine Bäche. Jeder Torbogen wies einen flüssigen Vorhang auf, der von seinem Schlußstein ausging; in jeder Kammer herrschte eine Frische, die von blubbernden Quellen und plätschernden Springbrunnen an der Decke herrührte. Und in jedem einzelnen Tropfen spürte Judith den gleichen Empfindungskosmos wie in den Fluten, die sie zu diesem Ort gebracht hatten: Wasser als Leben, gefüllt mit göttlicher Entschlossenheit. Oben leuchtete der Komet am Himmel und schickte weißes Licht durch alle Ritzen und Fugen, die er finden konnte. Sein Glanz verwandelte die unscheinbarste Pfütze in einen kleinen Orakelteich, knüpfte ein Gespinst aus Farben in leerer Luft.
    Die Frauen in den glitzernden Passagen hätten kaum unterschiedlicher sein können. Viele von ihnen waren Gefangene der Bastion oder des gefürchteten Annex gewesen, erklärte Lotti. Andere folgten einfach nur ihrem Instinkt und den nach oben fließenden Strömen, als sie den Berghang erkletterten, um diesen Ort zu erreichen. Sie ließen ihre Ehemänner - ob lebendig oder tot - unten in der Stadt zurück.
    »Gibt es hier überhaupt keine Männer?« fragte Jude.
    »Nur die kleinen«, erwiderte Lotti.
    »Sie sind alle klein«, kommentierte Paramarola.
    »Ich erinnere mich an einen besonders gemeinen Hauptmann 115
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    im Annex«, sagte Lotti. »Als das heilige Wasser kam, war er offenbar gerade dabei, seine Blase zu entleeren - die Wellen trugen ihn mit offener Hose fort...«
    »Und er hielt sein Ding fest«, meinte Paramarola. »Er hätte es loslassen können, um zu schwimmen...«
    »Aber er entschied sich dagegen«, beendete Lotti den Bericht. »Die Männlichkeit war ihm wichtig genug, um dafür zu ertrinken.«
    Paramarola schien das sehr lustig zu finden: Sie schüttelte sich vor Lachen, und dabei glitt die Brustwarze aus dem Mund des Babys. Milch spritzte dem Säugling ins Gesicht, was zu neuerlichem Gelächter führte. Judith fragte nicht, wieso Paramarola den Knaben ernähren konnte, obwohl sie weder seine Mutter noch schwanger war. Das gehörte zu den vielen Rätseln und Wundern dieser Reise. Wie der Tümpel vor einer Wand: Dutzende von schillernden Fischen schwammen darin.
    Oder wie jenes Wasser, das zu brennen schien: Einige Frauen trugen einen Teil davon als Kronen. Oder wie der lange Aal, der an ihr vorbeigetragen wurde: Der Kopf mit dem aufgerissenen Maul ruhte auf der Schulter eines Kindes, und der Leib erstreckte sich zwischen sechs Frauen, schlang sich ihnen mindestens zehnmal um die Hüften. Judith verzichtete darauf, um eine Erklärung zu bitten. Die entsprechenden Ausführungen hätten sicher viel Zeit in Anspruch genommen -
    schließlich herrschte hier kein Mangel an Sonderbarem -, und der Zeitfaktor spielte eine wichtige Rolle.
    Schließlich verharrten sie an einer Stelle, wo das Wasser einen kleinen, seichten Teich am Rand des zentralen Beckens formte. Gespeist wurde er von einigen Bächen: Sie kletterten durch Trümmer, füllten die Mulde und flossen über ihren Rand hinaus in den See. Etwa dreißig Frauen und Kinder hatten sich hier eingefunden. Einige von ihnen spielten oder sprachen miteinander, doch die meisten hatten ihre Kleidung abgestreift und warteten, standen am Ufer und blickten über den See 1157

    hinweg zu Uma Umagammagis Insel. Als sich Judith und ihre beiden Begleiterinnen näherten, rollte eine Welle heran und erfaßte zwei Frauen, die ihr Hand in Hand entgegentraten und sich in Richtung Eiland tragen ließen. Der Szene haftete etwas Erotisches an, was Jude unter anderen Umständen sicher geleugnet hätte, doch hier schienen Verschlossenheit und Zu-rückhaltung völlig fehl am Platz zu sein. Sie ließ ihrer Fantasie freien Lauf und stellte sich vor, wie es sein mochte, in einer solchen Nacktheit zu leben, wo der einzige männliche Aspekt zwischen den Beinen eines Säuglings existierte; sie dachte an Brüste, die übereinander hinwegstrichen, glaubte zu spüren, wie etwas ihre

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