Imagica
Finger küßte, den Hals liebkoste, wie sie diese Zärtlichkeiten erwiderte.
»Das Wasser im Becken ist sehr tief«, sagte Lotti. »Es reicht bis zum Fundament des Berges hinab.«
Was ist mit den Toten geschehen, deren Gesellschaft Dowd so lehrreich fand? überlegteJudith. Hatten die Fluten sie einfach fortgespült, zusammen mit den Beschwörungen und Gebeten, die vom Zapfenturm aus in die gleiche Dunkelheit rieselten? Oder waren sie zu einer schleimigen Suppe geworden, die sich anschließend mit diesem unermüdlichen Wasser vereinte. War das Geschlecht der Männer vergessen, das Leid der Frauen überwunden? Jude hoffte es. Wenn sich die hiesigen Mächte dem Unerblickten gegenüber behaupten wollten, so brauchten sie alle zur Verfügung stehende Kraft.
Die Wälle und Mauern zwischen den Kesparaten existierten nicht mehr, und die Ströme schufen ein Kontinuum aus Stadt und Palast. Aber auch die Vergangenheit mußte bewahrt werden - Mysterien, die es sicher auch hier gegeben hatte.
Dabei handelte es sich nicht nur um einen abstrakten Wunsch Judiths. Immerhin gehörte sie selbst zu jenen Wundern und Mysterien: Sie stellte das Duplikat einer Frau dar, die hier regiert hatte, mit der gleichen Grausamkeit wie ihr Gemahl.
»Gibt es keinen anderen Weg zur Insel?« wandte sie sich an 115
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Lotti.
»Hier verkehren keine Fähren, wenn du das meinst.«
»Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als zu schwimmen.«
Ihre Kleidung behinderte sie, aber es war Jude noch nicht gelungen, alle ihre Hemmungen zu überwinden: Es widerstrebte ihr, sich ebenfalls auszuziehen und nackt ins Wasser zu springen. Sie bedankte sich bei Lotti und Paramarola und kletterte dann den Felshang hinab, der sie vom Teich trennte.
»Hoffentlich irrst du dich, Judith!« rief ihr Lotti nach.
»Glaub mir - ich teile deine Hoffnung«, erwiderte die Frau aus der Fünften Domäne.
Sowohl dieser kurze Wortwechsel als auch das nicht gerade sehr elegante Klettern weckten die Aufmerksamkeit der Badenden, doch niemand von ihnen erhob Einwände, als Jude in ihrer Mitte erschien. Je mehr die Distanz zum See schrumpfte, desto größer wurde ihr Wunsch, die Insel zu erreichen. Es war schon einige Jahre her, seit sie zum letztenmal eine längere Strecke schwimmend zurückgelegt hatte, und wenn sich die Strömung gegen sie verschwor, sie daran hindern wollte, zum Ziel zu gelangen... Judith bezweifelte, ob genug Kraft in ihr wohnte, um mit einer derartigen Herausforderung fertig zu werden. Andererseits: Sie rechnete nicht damit, daß sie Gefahr lief, in den vor ihr schimmernden Fluten zu ertrinken. Schließlich war sie von ihnen zum und durch den Palast getragen worden, ohne dabei verletzt zu werden. Der einzige Unterschied zwischen jener ersten Reise und dieser zweiten bestand aus der Tiefe des Wassers.
Erneut rollte eine Welle dem Teich entgegen, und weiter vorn traf eine Mutter mit ihrem Kind Vorbereitungen, sich der Woge anzuvertrauen. Judith lief los, sprang vom letzten Felsen, flog über die Köpfe der Badenden hinweg und fiel ins Wasser.
Das Bewegungsmoment trug sie tiefer als erwartet, und fast so 1159
etwas wie Panik quoll in ihr empor. Sie trat mit den Beinen, ruderte mit den Armen und öffnete die Augen, konnte jedoch nicht feststellen, wo es nach ›oben‹ ging. Die Fluten um sie herum wußten es, hoben Jude wie einen Korken aus der Tiefe und umschmeichelten sie mit Gischt. Die Entfernung zum Ufer betrug schon zwanzig Meter und wuchs rasch. Sie sah noch, wie Lotti im Schaum des Brandungsbereichs nach ihr Ausschau hielt, bevor Strudel sie packten und drehten, immer schneller, bis sie die Orientierung verlor und nicht mehr wußte, wohin sie blicken sollte, um das Ufer beobachten zu können.
Statt dessen konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Insel und schwamm. Das Wasser schien bestrebt zu sein, ihre Anstrengungen zu unterstützen. Es trug sie dem Eiland entgegen, allerdings nicht auf direktem Wege; die Strömung folgte vielmehr den imaginären Linien einer großen Spirale, die gegen den Uhrzeigersinn um die Insel herumführte.
Überall fiel das Licht des Kometen auf die Wellen, und das Glitzern hinderte Judith daran, nach unten zu starren - dafür war sie dankbar. Zwar fiel es ihr leicht, sich an der Wasseroberfläche zu halten, aber sie wollte nicht an die Tiefe unter ihr erinnert werden. Sie besann sich ganz aufs Schwimmen und erlaubte sich nicht einmal genug Muße, um die sanften Berührungen der Fluten zu genießen. Jetzt durfte sie
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