Imagica
bedachte Judith mit einem kühlen, professoralen Blick.
»Noch eine angeschwemmte Seele«, sagte sie.
Jude blieb stehen. Zwar gaben die Frauen durch nichts zu erkennen, daß für Fremde der Aufenthalt in diesem Bereich des Turms verboten war, aber sie wollte als Gast zum Ort der Wunder gelangen, nicht als Eindringling.
»Bin ich willkommen?«
»Natürlich«, sagte die Ältere. »Bist du wegen der Göttinnen hier?«
»Ja.«
»Dann stammst du aus der Bastion, nehme ich an, oder?«
Bevor Judith antworten konnte, erklang die Stimme der Dicken.
»Natürlich nicht! Sieh sie dir nur an!«
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»Aber die Fluten brachten sie zu uns.«
»Das Wasser bringt jede Frau, die mutig genug ist, sich ihm anzuvertrauen. Wir selbst sind das beste Beispiel dafür.«
»Gibt es noch viele andere?« fragte Jude.
»Hunderte«, sagte die zweite Frau. »Vielleicht sogar Tausende.«
Das überraschte Judith nicht. Sie wußte nur wenig von Imagica, aber trotzdem hielt sie es für möglich, daß die Göttinnen nach wie vor existierten. Wenn jemand wie sie von einer derartigen Vermutung ausging..., dann mußten sich die hiesigen Frauen, die mit Legenden von Tishalulle und Jokalaylau aufgewachsen waren, dessen praktisch sicher sein.
Sie ging den beiden Gestalten entgegen, und die Brillenträgerin stellte sich vor.
»Ich bin Lotti Yap.«
»Und ich heiße Judith.«
»Es freut uns, daß du hier bist, Judith«, sagte die andere Frau. »Mein Name lautet Paramarola. Und dieser kleine Bursche hier...« Sie blickte auf das Baby hinab. »Das ist Billo.«
»Dein Sohn?« fragte Jude.
»Wo hätte ich hier einen Mann finden sollen, der mir so etwas gibt?« entgegnete Paramarola.
»Neun Jahre lang sind wir im Annex gewesen«, erklärte Lotti Yap. »Als ›Gäste‹ des Autokraten.«
»Möge sein Dorn verfaulen«, sagte Paramarola. »Und die beiden Beeren daran ebenfalls.«
»Woher kommst du?« erkundigte sich Lotti.
»Aus der Fünften«, erwiderte Jude.
Inzwischen schenkte sie den beiden Frauen nicht mehr ihre volle Aufmerksamkeit. Ein beträchtlicher Teil ihres Interesses galt dem Fenster auf der anderen Seite des mit Pfützen übersäten Korridors, und natürlich dem entsprechenden Panorama dahinter. Sie trat an den Sims heran und blickte 1151
staunend und voller Ehrfurcht nach draußen. In der Mitte des Palastes hatten die Fluten einen freien runden Bereich geschaffen, der etwa achthundert Meter durchmaß. Dort existierten weder Mauern noch Dächer oder Säulen. Nur Felsinseln ragten auf, wo zuvor die höheren Türme gewesen waren. An einigen Stellen bemerkte Judith Teile eines früheren Amphitheaters, die wie Mahnungen in Hinsicht auf Arroganz und Größenwahn des Baumeisters wirkten. Sicher dauerte es nicht mehr lange, bis auch jene Überbleibsel verschwanden.
Das Wasser in dem riesigen Becken schien ruhig zu fließen, aber sein Gewicht genügte wohl, um irgendwann auch die letzten Reste von Sartoris Meisterwerk zu zermalmen.
Im Zentrum des Sees befand sich eine besonders große Insel; ihre Ufer bestanden aus dem Schutt, der von der oberen Hälfte des Turms übriggeblieben war; hier und dort sah Jude auch einige Brocken des Zapfens. Das Eiland ragte hoch auf und präsentierte sich als eine große, glitzernde Pyramide, in der ein weißes Feuer zu brennen schien. Der Autokrat hatte seinen Palast innerhalb von Jahrzehnten geplant und errichten lassen, doch die Fluten brauchten nur wenige Tage oder Stunden, um ihn zu zerstören. Die Frau aus der Fünften fragte sich bei diesem Anblick, wie es ihr überhaupt gelungen war, lebend hierherzugelangen. Jene Macht, die sie weiter unten am Hang des Berges gespürt hatte, die dort kaum mehr gewesen war als ein harmloser Bach... An diesem Ort entfaltete sie unwiderstehliche Kraft.
»Habt ihr alles beobachtet?« wandte sie sich an Lotti Yap.
»Wir haben nur die letzte Phase gesehen. Aber sie war ziemlich beeindruckend. Einstürzende Gebäude, kippende Türme...«
»Wir fürchteten um unser Leben«, warf Paramarola ein.
»Du hast um dein Leben gefürchtet«, verbesserte Lotti. »Das Wasser befreite uns nicht, damit wir anschließend darin ertrinken sollten. Nun, wir waren im Annex gefangen. Plötzlich 115
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sprang die Tür auf, und herein strömten die Fluten, spülten die Wände fort.«
»Wir wußten, daß die Göttinnen kommen würden, nicht wahr?« meinte Paramarola. »Wir haben nie den Glauben daran verloren.«
»Du hast also nie Ihren Tod für möglich gehalten?«
»Natürlich
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