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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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nur, sondern gab auch: Ihre Nerven reagierten auf den 116
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    Genuß, indem sie ebenfalls sanfte Zärtlichkeit spendeten.
    Schließlich wichen die anderen Präsenzen fort, und Judith begriff, daß sie sich nun den oberen Bereichen des Tempels näherte. Zuvor mochte sich fester Boden unter ihren Füßen erstreckt haben, aber sie hatte ihn in dem Augenblick verloren, als sie über die Schwelle trat. Immer weiter stieg sie auf, trotzte der Schwerkraft ebenso wie das den Berg hinaufströmende Wasser. Weiter vorn und oben bemerkte sie Bewegungen, und sie wirkten besonders geschmeidig. In diese Richtung schwebte Jude nun, wie vom Wallen gerufen, und hoffte dabei, daß sie wieder Lippen und Mund erhielt, wenn der entscheidende Zeitpunkt kam, um Gedanken zu formulieren und in Worte fassen zu müssen. Die Bewegungen gewannen eine deutlichere Ausprägung, und bald konnte nicht mehr der geringste Zweifel daran bestehen, von wem sie stammten.
    Sie sah mit den Augen ihrer Fantasie, und Imagination zeigte ihr ein Existenzsymbol: eine Möbiusschleife aus bunt funkelndem Wasser. Das endlose Band pulsierte in einem regelmäßigen Rhythmus und erzeugte dadurch zahllose winzige Wellen, die eine Art Regen formten. Es handelte sich um die Ursache der Quellen, um den Ausgangspunkt der Flüsse, um jene erhabene Präsenz, deren Kraft den Palast zerstört und dort ein Heim für Ozeane und Kinder geschaffen hatte, wo zuvor Schrecken und Entsetzen zu Hause gewesen waren - Uma Umagammagi.
    Judith betrachtete das Symbol der Göttin, hielt jedoch vergeblich nach Anzeichen für Atem, Schweiß oder etwas in der Art Ausschau. Aber die Emanationen der Güte erwiesen sich als so intensiv, daß sie glaubte, Ihr Lächeln zu sehen, Ihren Kuß zu spüren, Ihren liebevollen Blick zu fühlen. Ja, Liebe.
    Diese Macht vor ihr war ihr unbekannt, aber trotzdem fühlte sich Judith von ihr auf eine Weise umarmt, die nur durch Liebe möglich wurde. Zum erstenmal in ihrem Leben wich die Furcht selbst aus den entferntesten Winkeln ihres Selbst. Nie zuvor 1163

    hatte sie so vollkommene, alles andere ausschließende Glückseligkeit gespürt - immer war damit die Erkenntnis einhergegangen, daß solche Phasen viel zu rasch endeten, aber diesmal gab es keinen Platz für irgendeinen Rest von Unruhe.
    Hier und jetzt existierte nichts Besorgniserregendes mehr. Die Göttin liebte Jude vorbehaltlos und würde sie immer lieben.
    »Liebe Judith«, intonierte die heilige Stimme - eine so resonante Stimme, daß die wenigen Silben wie eine Arie klangen. »Liebe Judith... Was ist so wichtig, daß du dein Leben riskierst, um diesen Ort aufzusuchen?«
    Als Uma Umagammagi sprach, sah Jude, wie ihr eigenes Gesicht im Wogen erschien, dort erstrahlte und zu einem Band aus Licht wurde, das im Symbol der Göttin verschwand. Sie schaut in mich hinein, dachte die Frau aus der Fünften. Sie sondiert mein Ich, um zu verstehen, warum ich hier bin. Und anschließend nimmt Sie mir die Verantwortung. Dann kann ich für immer in diesem herrlichen Tempel bleiben und Ihr Gesellschaft leisten.
    »Eine sehr ernste Angelegenheit«, sagte die Göttin nach einer Weile. »Du mußt entscheiden, ob du die Rekonziliation verhindern oder zulassen sollst. Und es besteht die Gefahr, daß du dir den Groll von Hapexamendios zuziehst.«
    »Ja«, bestätigte Jude, dankbar dafür, daß sie nicht alle Einzelheiten erklären mußte. »Ich weiß nicht, was der Unerblickte plant. Vielleicht gar nichts...«
    »Oder vielleicht das Ende von Imagica.«
    »Wäre Er dazu imstande?«
    »Durchaus«, erwiderte Uma Umagammagi. »Er hat Unseren Tempeln und Unseren Schwestern oft Unheil gebracht.
    Manchmal kam Er selbst; manchmal schickte Er Seine Diener.
    Er ist eine fehlgeleitete, sündige Seele und bedeutet Verderben.«
    »Aber könnte Er eine ganze Domäne zerstören?«
    »Ich weiß ebensowenig wie du, ob Seine Macht dafür 116
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    ausreicht«, sagte Umagammagi. »Wie dem auch sei: Ich würde es sehr bedauern, wenn die Chance ungenutzt bliebe, den Kreis zu vervollständigen.«
    »Den Kreis?«
    »Den Kreis namens Imagica«, entgegnete die Göttin. »Weißt du, die Domänen sollten nie auf diese Weise voneinander getrennt werden. Verantwortlich dafür sind die ersten menschlichen Geister, die auf der Erde mit einer körperlichen Existenz begannen. Zu Anfang verursachten ihre Bestrebungen keinen Schaden: Sie lernten nur, unter Bedingungen zu leben, die sie verunsicherten. Wenn sie den Kopf hoben, erblickten sie Sterne. Wenn sie

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