Imagica
sich nicht solchen Empfindungen hingeben und mußte vor allem darauf bedacht sein, ihr Ziel zu erreichen.
Nach einer Weile war das Ufer nur noch fünfzig Meter entfernt, doch Judiths Schwimmzüge verloren immer mehr an Energie. Und als die Spirale enger wurde, gewann die Strömung die Oberhand. Jude stellte ihre Bemühungen ein, aus eigener Kraft zur Insel zu gelangen, und überantwortete sich ganz und gar dem Wasser. Noch zweimal trug es sie um das Eiland herum, bis sie schließlich Boden unter den Füßen spürte und Uma Umagammagis Tempel sah. Hier schienen die Fluten mit noch mehr leidenschaftlicher Hingabe tätig gewesen zu 116
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sein, was Judith kaum überraschte. Sie hatten an den gewaltigen Steinblöcken des Turms genagt und den Mörtel zwischen ihnen fortgewaschen, um sich anschließend Basis und Spitze vorzunehmen. Gewaltige, viele Tonnen schwere Steinplatten waren jetzt nicht mehr fest verbunden, sondern balancierten wie Akrobaten aufeinander, während glitzerndes Wasser durch die Lücken zwischen ihnen floß und weitere Hohlräume schuf. Der einst unerschütterliche Turm schien sich dadurch in eine nasse Säule aus Wasser, Stein und Licht verwandelt zu haben. Die Strömung griff nach erodierten Brocken und nahm sie mit, um sie anschließend am Ufer zurückzulassen, in Form von feinem Sand. Auf diese weiche Unterlage sank Judith nun, um ein wenig auszuruhen. Sie kicherte fröhlich, was bei einigen in der Nähe spielenden Kindern Echos fand.
Nur eine knappe Minute lang schöpfte sie Atem, um dann wieder aufzustehen und über den Strand in Richtung Tempel zu gehen. Das Portal war auf ebenso komplexe Weise erodiert wie die Steinblöcke, und ein Schleier aus Wasser schirmte den Raum dahinter von den Personen draußen ab - zehn oder zwölf Frauen warteten vor dem Zugang. Ein junges Mädchen, das gerade erst die Pubertät hinter sich hatte, machte gerade einen Handstand; ein anderes sang - so hörte es sich jedenfalls an.
Aber vielleicht täuschte dieser Eindruck, vielleicht ging die Melodie nicht auf eine menschliche Stimme zurück, sondern auf die musikalischen Ambitionen eines nahen Baches oder Flusses. Wie zuvor beim Teich erhob niemand Einwände gegen das plötzliche Erscheinen einer Fremden, die Kleidung trug, obgleich alle anderen mehr oder weniger nackt waren.
Eine angenehme Trägheit hatte alle Anwesenden erfaßt, und allein ihre Willenskraft bewahrte Judith davor, sich ihr ebenfalls hinzugeben. Sie zögerte nicht und trat durch die Wassertür, ohne ein einziges Wort an die Wartenden zu richten.
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Im Innern des Tempels schien es nichts Festes zu geben.
Seltsame Formen aus Licht wogten und waberten, wie von unsichtbaren Händen bewegt, die nicht unbedingt bestrebt waren, etwas Konkretes zu schaffen, während sie dem Glühen und Glimmen neue Strukturen verliehen. Judith senkte den Kopf. Ihre Arme blieben sichtbar, erweckten jedoch den Eindruck, nicht mehr aus Fleisch und Blut zu bestehen.
Offenbar hatten sie bereits den Trick des Lichts gelernt und metamorphierten zu einer Vielzahl von Mustern, um an dem hier stattfindenden Reigen teilzunehmen. Jude streckte die Hand aus, um eine der anderen Besucherinnen mit knospenden Fingern zu berühren, und als der Kontakt erfolgte, gewährte er ihr einen Blick auf die ursprüngliche Frau vor der Verwandlung. Sie bot sich ihr so dar wie ein Körper, der von einem feuchten Tuch umweht wurde: Mal klebte der Stoff an der Hüfte fest oder an Wange und Brust, um sich dann wieder aufzublähen, zu flattern und die Konturen zu verhüllen.
Trotzdem: Judith war sicher, zumindest den Hauch eines Lächelns gesehen zu haben.
Das Gefühl, weder allein noch unwillkommen zu sein, verbannte das Unbehagen aus ihr, und sie wagte sich tiefer in den Tempel. Jenes Versprechen von Erotik, das sie beim Blick in den Teich gesehen hatte, ging nun in Erfüllung. Sie spürte, wie ihre eigene Gestalt zerfloß, Milch gleich in die flüssige Luft tropfte und dabei über andere Leiber hinwegstrich. Seltsame Überlegungen gingen mit diesen Empfindungen einher.
Vielleicht würde sie sich hier auflösen; möglicherweise befand sie sich bereits tief im See und erinnerte sich nur noch ans Körperliche - vom Wasser beschworene Reminiszenzen, die ihr Trost spenden sollten. Solche Spekulationen standen nicht im Gegensatz zu den wiederholten physischen Kontakten mit anderen fleischlichen Entitäten, bildeten vielmehr einen integralen Bestandteil jenes Wohlbehagens. Und Jude empfing nicht
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