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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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gekommen war, offenbarte sich ihm allmählich die Ungeheuerlichkeit dessen, was unter ihm geschah. Wenn man alle lebenden Körper, die jemals auf der Erde gewandelt waren, hierhergebracht hätte, auf daß sie an diesem Ort verfaulten... Ihre Masse wäre nicht annähernd jener der Stadt gleichgekommen. Hinzu kam: Hier erfolgte die Verwesung nicht im Boden, um Nährstoffe für kommende Generationen zu bilden. Dieses Fleisch war der
    Boden. Von jetzt an existierte hier einzig und allein Fäule: Schicht um Schicht des Zerfalls; eine bis zum Ende der Zeit vergiftete Domäne.
    Voraus wallte der Nebel, der den Rand der Stadt von der Fünften trennte. Gentle schwebte durch das Grau, und Erleichterung durchströmte ihn, als er wieder die schlichten Straßen von Clerkenwell sah. Nach dem Prunk in der Metropole schienen sie völlig reizlos zu sein - aber er wußte, 129
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    daß die Luft den angenehmen Geruch von Sommerblüten trug -
    obgleich er ihn in seinem gegenwärtigen Zustand nicht wahrnehmen konnte. Im Bereich von Holborn oder Gray's Inn Road erklang ein willkommenes Geräusch: das Brummen eines Motors. Irgend jemand schien dort zu wissen, daß nun das Schlimmste überstanden war, woraufhin er beschlossen hatte, wieder seinen Geschäften nachzugehen - die um diese Zeit kaum legal sein konnten. Dennoch wünschte Gentle dem Fahrer alles Gute. Die Domäne war sowohl für Heilige als auch für Diebe gerettet worden.
    Er verweilte nicht am Nebel, der die Transferstelle kennzeichnete, sondern eilte weiter, so schnell es seine müden Gedanken zuließen, zurück zum Haus Nummer achtundzwanzig und zu dem verletzten Körper, der dort am unteren Ende der Treppe ruhte und sich nach wie vor dem Tod widersetzte.
    Judith wartete nicht, bis sich der Rauch verzog, sie wankte durch den Qualm, betrat das Meditationszimmer und ignorierte Clems Aufforderung, sich von dem Raum fernzuhalten.
    Entgegen aller Vernunft hoffte sie, daß Sartori überlebt hatte.
    Bei den Oviaten war das nicht der Fall. Ihre Kadaver lagen dicht hinter der Schwelle, und ein Blick genügte, um festzustellen: Nicht etwa das Feuer hatte die Gek-a-gek in den Tod getrieben, sondern das Ende ihres Herrn. Kurz darauf fand Jude den ehemaligen Herrscher von Yzordderrex. Er lag dort, wo er nach Celestines Stoß zu Boden gefallen war, erstarrt in dem Versuch, sich noch einmal dem Steinkreis zuzuwenden.
    Jenes Bemühen war ihm zum Verhängnis geworden. Die göttliche Glut hatte seine Mutter praktisch verdampfen lassen, aber er war nur teilweise in ihr verbrannt. Die Asche der Kleidung bildete nun eine Patina mit den obersten Hautschichten des Rückens, und der Schädel wies kein einziges Haar mehr auf. Das Gesicht präsentierte sich als eine alptraumhafte Masse aus Blasen. Doch er klammerte sich mit 1293

    der gleichen Entschlossenheit am Leben fest wie sein Bruder, der unten am Fuß der Treppe blutete. Zitternde Finger tasteten auf der Suche nach Halt über die Bodendielen, und bebende Lippen enthüllten die Zähne eines Totenkopfgrinsens. Es steckte sogar noch Kraft in Sehnen und Muskeln. Als Sartori Judith sah, stemmte er sich hoch, bis es ihm gelang, sich auf den Rücken zu rollen. Schmerz explodierte in ihm, und er benutzte ihn, um wach zu bleiben, nicht das Bewußtsein zu verlieren. Mit der einen Hand tastete er nach Jude und zog sie zu sich herunter.
    »Meine Mutter...«
    »Sie ist tot.«
    Sartoris Gesicht zeigte Verwunderung. »Warum...?«
    Krämpfe schüttelten ihn, als er sprach. »Sie schien es... zu wollen. Warum?«
    »Es ging ihr darum, den Tod des Gottes Hapexamendios zu erleben«, erwiderte Judith.
    Der Sterbende schüttelte den Kopf und verstand nicht.
    »Wie... kann das... möglich sein?« fragte er.
    »Imagica ist ein Kreis«, erklärte Jude und spürte dabei Sartoris verwirrten Blick auf sich ruhen. »Das Feuer kehrte zu seinem Ursprung zurück.«
    Dem Mann dämmerte eine Erkenntnis, und emotionale Pein gesellte sich seiner Agonie hinzu.
    »Hapexamendios existiert nicht mehr?« vergewisserte er sich.
    Judith hätte am liebsten geantwortet: Das hoffe ich. Aber sie verschluckte diese Worte und nickte nur.
    »Vater und Mutter, beide tot«, murmelte Sartori. Er zitterte nun nicht mehr, und die Stimme wurde immer leiser. »Ich bin allein...«
    In den letzten drei Worten kam tiefer Kummer zum Ausdruck, und Jude wünschte sich eine Möglichkeit, Trost zu spenden. Sie fürchtete, ihm mit einer Berührung weitere 129
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    Schmerzen zu bescheren, aber vielleicht litt

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