Imagica
Wegen Taylor bin ich mit Pie aufgebrochen, um einen Weg für ihn zu finden...«
Eine dritte Stimme erklang. »Vielleicht gibt es keinen.«
Clem stand in der Tür, doch Tay sprach mit seinen Lippen.
»Ich habe dir eine Antwort versprochen«, sagte Gentle.
»Und du hast eine gefunden. Imagica ist ein Kreis, aus dem man nicht heraus kann. Welchen Weg man auch beschreitet: Früher oder später führt er zum Ausgangspunkt zurück. Nun, eigentlich ist das gar nicht so schlimm. Man muß sich mit den Gegebenheiten abfinden.«
Gentle nahm die Hand von Montags Schulter und wandte sich vom Baum ab, auch von Judith und den Schutzengeln in der Tür. Mit gesenktem Kopf hinkte er über die Straße und 1297
murmelte dabei eine Antwort, die niemand hören konnte.
»Das ist nicht genug«, hauchte er.
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KAPITEL 61
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Für die lebenden Bewohner der Gamut Street waren die nächsten Tage in gewisser Weise ebenso seltsam wie die Ereignisse zuvor. Die restliche Welt schien überhaupt nichts von der Fast-Katastrophe zu ahnen, und wenn sie eine Veränderung spürte, so verbarg sie ihren Argwohn gut. Die sintflutartigen Regenfälle und Hitzewellen vor der Rekonziliation wichen am nächsten Morgen dem Nieseln und zaghaften Sonnenschein des englischen Sommers. Die Bürger nahmen sich ein Beispiel an dieser Mäßigung. Jene Anfälle von Irrationalität, die überall zu Auseinandersetzungen geführt hatten, fanden ein Ende, und des Nachts gingen die Leute nicht mehr nach draußen, um in Erwartung von Zeichen zu den Sternen hochzublicken.
In einer anderen Stadt als London wären die nun präsenten Mysterien sicher entdeckt und gefeiert worden. Zum Beispiel Rom: Der Vatikan hätte ihre Existenz innerhalb einer Woche proklamiert. Oder Mexico City: Die Armen wären schon nach wenigen Tagen durch die Pforten aus grauem Dunst geschritten, in der Hoffnung, jenseits davon ein besseres Leben zu finden. Aber England... Oh, England! Hier war der Sinn fürs Mystische nie sehr verbreitet gewesen, und hinzu kam, daß allein die schwächsten und unbegabtesten Beschwörer überlebt hatten - die mächtigen Maestros zählten zu den Opfern der Tabula Rasa. Hier gab es niemanden, der damit beginnen konnte, seine Mitbürger von Dogmen zu befreien, von einer Denkweise, die Nützlichkeit und ›Realismus‹ über alles andere stellte.
Doch der Nebel wurde nicht völlig ignoriert. Die Tiere in der Stadt spürten den Wandel, und sie kamen nach Clerkenwell, 1299
um ihn zu beschnüffeln. Die streunenden Hunde, die sich in der Nähe von Gamut Street eingefunden hatten, als erste Geister und Phantome erschienen, die später von Sartoris Horde vertrieben wurden... Jetzt kehrten sie zurück und erweckten den Eindruck, etwas Verlockendes zu wittern. Wenn der Abend dämmerte, stimmten Katzen ein kläglich klingendes Miauen in den Bäumen an - sie wirkten neugierig, blieben jedoch gelassen. Während der ersten drei Tage nach der Sommersonnenwende fanden sich zweimal große Schwärme aus Bienen und Vögeln ein - sie erinnerten Montag an seine Beobachtungen bei der Zuflucht. Es dauerte nicht lange, bis die Geschöpfe herausfanden, woher der neue Duft stammte, und viele von ihnen beschlossen, unter dem Himmel der Vierten Domäne ein neues Leben zu beginnen.
In bezug auf zweibeinige Reisende gab es keinen Verkehr zur Vierten, wohl aber in der anderen Richtung. Gut eine Woche nach der Rekonziliation klopfte Tick Raw an die Tür des Hauses Nummer achtundzwanzig und stellte sich Clem und Montag vor, um anschließend nach dem Maestro zu fragen. Er betrat ein Gebäude, das jetzt weitaus mehr Bequemlichkeit bot als sein Heim in Vanaeph: Einige von Montag und Clem unternommene Raubzüge hatten es mit zusätzlichem Komfort ausgestattet. Doch der Eindruck unbelasteter Gemütlichkeit täuschte. Zuerst waren die Kadaver der Gek-a-gek zusammen mit der Leiche ihres Herrn unter dem hohen Gras von Shiverick Square begraben worden, und die reparierte Haustür wies keine Blutflecken mehr auf. Darüber hinaus hatte man das Meditationszimmer gründlich gereinigt und alle Steine des Kreises in Leinen gewickelt, um sie dann zu verstauen. Aber trotzdem erinnerte die allgemeine Atmosphäre deutlich an alle Geschehnisse, an Tod und Liebe, an Feindschaft, Versöhnung und Offenbarungen.
»Dies ist eine historische Zeit«, sagte Tick Raw, als er sich neben das Bett setzte, in dem Gentle lag.
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Die Erholung des Rekonzilianten würde noch eine Weile dauern, trotz seiner erstaunlichen
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