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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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er noch mehr, wenn sie weiterhin auf Distanz blieb. Vorsichtig und behutsam griff sie nach Sartoris Hand.
    »Du bist nicht allein«, sagte sie. »Ich bin bei dir.«
    Die Worte führten zu keiner Reaktion. Vielleicht hörte er sie gar nicht - mit seinen Gedanken war er ganz woanders.
    »Ich habe große Schuld auf mich geladen«, raunte er. »Gibt es eine größere Sünde als die Ermordung des eigenen Bruders?«
    Nur wenige Sekunden später erklangen laute Stimmen aus dem Erdgeschoß. Clem stieß einen Freudenschrei aus, und Montag jauchzte.
    »Boß, o Boß!«
    »Hast du das gehört?« wandte sich Judith an Sartori.
    »Ja...«
    »Ich glaube nicht, daß du ihn umgebracht hast.«
    In den Mundwinkeln des früheren Autokraten zuckte es, und Judith ahnte, daß er zu lächeln versuchte. Als Grund vermutete sie Freude angesichts des Überlebens von Gentle, doch diese Spekulation erwies sich als falsch: Es war ein bitteres Lächeln.
    »Und wenn schon«, hauchte Sartori. »Ich darf trotzdem nicht auf Erlösung hoffen.«
    Die auf dem Bauch ruhende Hand knetete so heftig, daß der ganze Leib von Krämpfen geschüttelt wurde. Blut quoll zwischen den Lippen hervor, und Sartoris Finger tasteten zum Mund, als wollten sie die rote Flüssigkeit verbergen. Er spuckte sein Blut in die Faust - so hatte es jedenfalls den Anschein -, um es Jude dann als Geschenk anzubieten.
    »Hier, nimm«, sagte er und öffnete die Hand.
    Sie berührte etwas, und zunächst sah sie nicht auf den Gegenstand hinab. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Mann, als er den Kopf drehte und zum Kreis starrte. Plötzlich begriff Judith, daß er zum letztenmal den Blick von ihr abwandte, und Worte strömten aus ihr hervor. Sie nannte seinen Namen, gestand ihre 1295

    Liebe und versprach, ihn nie zu verlassen; fast flehentlich bat sie ihn, bei ihr zu bleiben. Aber er achtete nicht darauf. Als er den Steinkreis sah, verließ ihn das Leben. Nicht Judes Anblick begleitete ihn in den Tod, sondern der des Ortes, wo man ihn erschaffen hatte.
    Die Hand der Frau enthielt nicht nur Blut aus Sartoris Mund, sondern auch das blaue Ei.
    Nach einer Weile stand sie auf und trat zum Treppenabsatz.
    Gentles Körper lag nun nicht mehr vor der untersten Stufe.
    Clem stand im Kerzenlicht, mit Tränen in den Augen und einem freudigen Lächeln auf den Lippen. Er sah auf, als Judith die Treppe hinunterging.
    »Sartori?« fragte er.
    »Tot.«
    »Und Celestine?«
    »Ebenfalls«, erwiderte Jude.
    »Aber es ist vorbei, nicht wahr?« erkundigte sich Hoi-Polloi.
    »Jetzt besteht keine Gefahr mehr, oder?«
    »Kommt darauf an...«
    »Wir sind in Sicherheit«, sagte Clem fest. »Gentle hat das Ende von Hapexamendios gesehen.«
    »Wo ist er?«
    »Draußen«, sagte Clem. »Ihn ihm steckt genug Vitalität...«
    »Für ein neues Leben?«
    »Für zwanzig Leben«, antwortete Tay. »Ein echter Glückspilz.«
    Judith erreichte das Ende der Treppe und umarmte Gentles Schutzengel, bevor sie nach draußen schritt. Gentle stand mitten auf der Straße, in ein Laken von Celestine gehüllt.
    Montag leistete ihm Gesellschaft. Der Rekonziliant stützte sich auf den Jungen, während er zu dem Baum hinüberblickte, der vor dem Haus Nummer achtundzwanzig wuchs. Das Feuer des Gottes Hapexamendios hatte einen großen Teil des Blattwerks verbrannt: Die halb verkohlten Zweige und Äste waren nackt.
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    Doch eine leichte Brise erfaßte die restlichen Blätter, und nach einer so langen Reglosigkeit brachte selbst diese geringfügige Bewegung Erleichterung. Sie bewies, daß Imagica Verderben und Unheil überstanden hatte und nun wieder atmete.
    Jude zögerte und glaubte, daß Gentle diese Sekunden der Meditation für sich allein haben wollte. Aber nach etwa einer halben Minute wandte er sich ihr zu. Im matten Licht der Sterne und dem verblassenden Glühen an den Ästen des Baums war er kaum mehr als eine Silhouette, doch ganz deutlich erkannte Judith sein strahlendes Lächeln, das so reizvoll wirkte wie früher. Als sie sich ihm näherte, verlor jenes Lächeln jedoch an Glanz; seine Verletzungen erwiesen sich wohl doch als recht ernst.
    »Ich habe versagt«, sagte er.
    »Die Domänen sind zusammengeführt«, entgegnete Judith.
    »Das ist kein Versagen.«
    Gentles Blick glitt über die Straße und durch eine Dunkelheit, in der kein Frieden herrschte.
    »Die Geister sind noch immer hier«, stellte er fest. »Ich habe geschworen, die Tür für sie zu öffnen, und das ist mir nicht gelungen. In dieser Hinsicht habe ich versagt.

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