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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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tief und fest.
    Judith stand auf, ging ins Wohnzimmer, schaltete dort die Lampe ein und nahm den Hörer von der Gabel. Sie kam sich wie jemand vor, der etwas zu verheimlichen hatte. Nicht ohne Grund. Marlin war keineswegs begeistert gewesen, als er erfuhr, daß einer von Judes Ex-Geliebten versucht hatte, in seiner eigenen Wohnung den Helden zu spielen. Sicher wäre es ihm recht schwer gefallen, Verständnis dafür aufzubringen, daß sie Gentle um zwei Uhr nachts anrief. Judith wartete, während die Hotelvermittlung eine Verbindung herstellte. Kurz darauf vernahm sie seltsame Geräusche: ein ekstatisch klingendes Schnaufen und Keuchen. Zorn erwachte in ihr - offenbar lag Gentle mit jemandem im Bett. Irgend etwas hinderte sie aber daran, einfach aufzulegen; sie hörte zu, wünschte sich fast, an dem Geschlechtsakt beteiligt zu sein. Als es ihr nicht gelang, Gentle davon abzulenken, ließ sie den Hörer schließlich wieder auf die Gabel fallen und schlich verärgert ins Schlafzimmer zurück.
    Zacharias rief am nächsten Tag an; Marlin nahm ab und drohte damit, Gentle als Komplizen bei einem versuchten Mord anzuzeigen, wenn er sich auch nur in die Nähe des Apartmenthauses wagte.
    »Was hat er gesagt?« fragte Judith nach dem kurzen Gespräch.
    »Nicht viel. Er klang betrunken.«
    Jude beließ es dabei. Marlin war bereits verdrießlich genug, nachdem sie beim Frühstück darauf hingewiesen hatte, daß sie noch immer beabsichtigte, nach England zurückzukehren.
    Warum? Ständig wiederholte er dieses eine Wort. Konnte er irgendwie dafür sorgen, daß sie sich sicherer fühlte? Er schlug vor, die Türen mit zusätzlichen Schlössern auszustatten und 132

    nicht von ihrer Seite zu weichen, aber er versuchte vergeblich, Judith umzustimmen. Erneut betonte sie, er - Marlin - hätte mit ihrer Entscheidung überhaupt nichts zu tun. Er sei ein perfekter Gastgeber, meinte Jude, doch sie sehnte sich nach der Heimat, nach den eigenen vier Wänden, wo sie glaubte, vor dem Killer geschützt zu sein. Daraufhin bot Marlin an, sie zu begleiten, damit sie nicht in einem leeren Haus allein sein müsse. Es fielen Judith keine weiteren Ausreden ein, und außerdem war sie mit ihrer Geduld am Ende: Sie meinte energisch, es sei ihr Wunsch, allein zu sein.
    Ein Taxi trug Judith im Schneckentempo durch den Schneesturm zum Flughafen, und anschließend mußte sie fünf Stunden lang bis zum Start der Maschine warten. An Bord saß sie zwischen einer Nonne, die bei jedem Luftloch laut betete, und einem Kind, das eine Wurmkur brauchte. Die Aussicht, bald daheim zu sein, gewährte Trost.
    2
    Im Atelier wurde Gentle vom Gemälde mit den vier unterschiedlichen Stilarten begrüßt. Seine Rückkehr hatte sich aufgrund des gleichen Schneesturms verzögert, durch den Judith fast daran gehindert worden wäre, Manhattan zu verlassen, und dadurch konnte er die von Klein gesetzte Frist nicht einhalten. Trotzdem: Während des Flugs verschwendete er kaum einen Gedanken an Chester und dachte statt dessen an die Begegnung mit dem Killer. Was Pie'oh'pah auch immer mit ihm angestellt hatte - am nächsten Morgen war er wieder er selbst. Seine Augen zeigten ihm ein normales Bild der Umgebung, und das Konzentrationsvermögen reichte aus, um die Formalitäten der Abreise zu erledigen. Dennoch hallte in ihm das Echo der jüngsten Erlebnisse. Im Flugzeug döste er und glaubte, unter den Fingerkuppen das glatte Gesicht des Killers zu spüren, am Handrücken jenes Haar, das er mit dem Judiths verwechselt hatte. Er nahm auch noch immer den 133

    Geruch feuchter Haut wahr und fühlte Pie'oh'pahs Gewicht auf den Hüften. Die intensiven Erinnerungen schufen eine so deutlich sichtbare Erektion, daß eine Stewardeß Gentle anstarrte. Vielleicht mußte er frische Empfindungen zwischen jene Echos und ihren Ursprung bringen; vielleicht konnte er sie nur überwinden, indem er eine Frau durchwalkte, sich gesundschwitzte. Diese Vorstellung tröstete ihn. Als er erneut döste, kehrten die Reminiszenzen zurück, doch diesmal kämpfte er nicht gegen sie an. Er wußte nun, daß es eine Möglichkeit gab, ihnen zu entrinnen.
    Jetzt saß er vor dem Gemälde mit den vier Stilen, blätterte im Adreßbuch und suchte nach einer Partnerin für die Nacht.
    Schließlich griff er nach dem Telefon und wählte verschiedene Nummern, doch hätte er sich keinen ungünstigeren Zeitpunkt aussuchen können. Ehemänner waren zu Hause: das Weihnachtsfest führte Familien zusammen. Keine gute Zeit für Gentle.
    Er

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