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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Beschreibungen Pie'oh'pahs:
    »Ein einzigartiges Wesen. Eine Ansammlung von Möglichkeiten...«
    Diese Worte liefen auf eine Bestätigung des Eindrucks hinaus, den Gentle in New York gewonnen hatte. Woraus sich 136

    folgende Frage ergab: Wer war jenes Wesen, das im Hotelzimmer nackt vor ihm gestanden hatte? War es eine Person, die eine Vielzahl von Personen in sich vereinte? Eine
    ›Macht‹ - so Chant -, die ohne Freunde blieb (»Nur Bewunderer und Verderber gehören ihr an.«) und der ebensoviel Leid widerfahren war wie Estabrook, dem Chant Reue anbot... Nun, um einen Menschen handelte es sich gewiß nicht. Gentle kannte kein Volk auf der Erde, dem Individuen wie Pie'oh'pah angehörten. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Brief zu und las ihn erneut - und dann noch einmal, dabei spürte er, wie die Möglichkeit des Glaubens herankroch. Er empfand die Nähe der Plausibilität. In New York hatte sich Gentle von der Realität getrennt gefühlt, doch nun reifte die Vermutung in ihm heran, daß er Zeuge einer anderen, nicht weniger realen Wirklichkeit geworden war, die jetzt keine Furcht mehr in ihm weckte. Vielleicht lag es daran, daß Weihnachten begann - genau der richtige Zeitpunkt für etwas Wundersames, um sich zu manifestieren und die Welt zu verändern.
    Je mehr sich ihm Glaube und der Morgen des ersten Weihnachtstages näherten, desto mehr bedauerte es Gentle, den Killer fortgeschickt zu haben, obwohl sich Pie ganz offensichtlich nach seiner Gesellschaft gesehnt hatte. Die einzigen Hinweise auf das Geheimnis stammten aus dem Brief, und dutzendfaches Lesen erschöpfte nur ihre Signifikanz. Es verlangte Zacharias nach mehr. Zwar erinnerte er sich an das puzzleartige Gesicht des Wesens, doch er kannte auch seine eigene Tendenz, selbst wichtige Dinge schon nach kurzer Zeit zu vergessen. Er mußte also die Details festhalten, bevor sie verblaßten! Die Aufgabe, der Vision dauerhafte Gestalt zu verleihen, hatte jetzt absoluten Vorrang!
    Gentle legte den Brief beiseite und starrte auf sein Gemälde Abendmahl bei Emmaus. Versetzte ihn einer der vier Stile in die Lage, Pie'oh'pah zu malen? Er bezweifelte es. Ihm blieb 137

    nichts anderes übrig, als eine ganz neue Ausdrucksform zu finden, um wiederzugeben, was er gesehen hatte. Die Kraft des Ehrgeizes durchströmte ihn, und er drehte das Bild um, quetschte gebrannte Umbra aus Tuben und verteilte sie mit einem Palettenmesser, bis die Farbe alles bedeckte. Diesen dunklen Hintergrund benutzte Gentle, um erste Konturen zu zeichnen. Er hatte sich nie sehr gründlich mit Anatomie beschäftigt, und seiner Ansicht nach ging vom männlichen Körper ein nur geringer ästhetischer Reiz aus. Der weibliche Leib war veränderlich, kam einer Funktion der eigenen Bewegung gleich, beziehungsweise des darüber hinwegstreichenden Lichts - aus diesem Grund hielt es Gentle für sinnlos, eine statische Darstellung zu versuchen. Er wollte etwas Proteisches schaffen, trotz der damit verbundenen enormen Schwierigkeiten. Er wollte einen Weg finden, um zu fixieren, was sich ihm in der Tür des Hotelzimmers gezeigt hatte: Pie'oh'pahs Züge, die aus zahllosen verschiedenen Gesichtern bestanden. Wenn es Gentle gelang, diesen Anblick auch nur ansatzweise auf der Leinwand zu reproduzieren...
    Dann konnte er vielleicht kontrollieren, was ihm nun keine Ruhe mehr ließ.
    Zwei Stunden lang arbeitete er wie ein Besessener und verlangte der Farbe mehr ab als jemals zuvor. Mit Palettenmesser und Fingern trug er sie auf, trachtete danach, wenigstens Form und Proportionen von Kopf und Hals einzufangen. Ganz deutlich sah er das Bild vor seinem inneren Auge (seit jener Nacht schienen nur wenige Minuten vergangen zu sein), aber er versagte dabei, es zu skizzieren.
    Für diese Aufgabe war Gentle schlecht gerüstet. Er hatte zuviel Zeit als Parasit verbracht, als Kopist, der die Visionen anderer Leute nachahmte. Jetzt besaß er selbst eine - nur eine einzige, die dadurch um so kostbarer wurde -, und er schaffte es nicht, ihr Form zu geben. Eine demütigende Niederlage, die Tränen hätte hervorrufen sollen, aber er war viel zu müde, um zu wei-138

    nen. Es klebte noch immer Farbe an seinen Händen, als er sich auf kühlen Laken ausstreckte und den Schlaf erwartete.
    Zwei Gedanken schoben sich in den Fokus seiner Aufmerksamkeit, als erste vage Traumszenen heranwehten: Erstens: Mit soviel gebrannter Umbra an den Fingern sah er aus, als hätte er mit Kot gespielt. Zweitens: Um das Problem auf der Leinwand zu

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