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Imagica

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Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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schon einen Whisky mit Soda vorbereitet doch Oscar rührte ihn zunächst nicht an, aus Furcht davor, daß ihm der Alkohol zu sehr die Zunge lösen könne. Seltsamerweise erwiesen sich die 128

    Offenbarungen der Orakelschüssel bei der Unterredung als recht nützlich. Außerdem reagierte er wie immer in extremen Situationen mit einer fast pathologischen Gelassenheit - einer seiner typisch englischen Eigenschaften. Mit kühler Ruhe teilte er McGann mit, daß er - ja, tatsächlich - auf Reisen gewesen wäre, und nein, der Grund dafür ginge die Gruppe nichts an.
    Natürlich sei es ihm eine Freude, am nächsten Tag bei der Versammlung im Turm zu erscheinen, aber wußte McGann, daß morgen Heiligabend war? Kümmerte es ihn überhaupt?
    »Am vierundzwanzigsten Dezember besuche ich immer die Mitternachtsmesse in St. Martin's-in-the-Field«, sagte Oscar.
    »Ich wüßte es also sehr zu schätzen, wenn die Beratungen rechtzeitig genug beendet würden, um mir Gelegenheit zu geben, noch einen guten Platz in der Kirche zu finden.«
    Er sprach diese Worte, ohne daß seine Stimme vibrierte.
    McGann erkundigte sich erneut nach Godolphins Aufenthaltsort während der vergangenen Tage, und Oscar antwortete, das spiele keine Rolle.
    »Frage ich Sie nach Ihren privaten Dingen?« erwiderte er in einem Tonfall, der Empörung andeutete. »Übrigens: Ich lasse auch nicht Ihr Haus überwachen. Oh, sparen Sie sich die Einwände, McGann. Sie vertrauen mir ebensowenig wie ich Ihnen. Ich werde die morgen stattfindende Versammlung zum Anlaß nehmen, um die Privatsphäre der Gruppenmitglieder zu diskutieren und daran zu erinnern, daß der Name Godolphin ein Eckpfeiler der Tabula Rasa ist.«
    »Noch ein Grund mehr für Sie, offen und ehrlich zu sein«, entgegnete McGann.
    »Oh, Sie dürfen Offenheit von mir erwarten«, sagte Oscar.
    »Und Sie bekommen einen Beweis für meine Unschuld.« Erst jetzt, nach dem Sieg im verbalen Krieg, griff er nach dem Whiskyglas. »Einen klaren, eindeutigen Beweis.«
    Er prostete Dowd stumm zu und wußte: Es würde Blut fließen, bevor der erste Weihnachtstag begann. Keine 129

    angenehmen Aussichten - aber es ließ sich nicht vermeiden.
    Schließlich legte er auf und wandte sich an den Beschworenen. »Ich glaube, ich trage morgen den Anzug mit dem Fischgrätenmuster. Und ein schlichtes Hemd. Weiß. Mit hohem Kragen.«
    »Und welche Krawatte?« fragte Dowd. Er füllte Oscars leeres Glas.
    »Nach der Besprechung im Turm fahre ich sofort zur Mitternachtsmesse.«
    »Also schwarz.«
    »Ja, schwarz.«
    130

KAPITEL 10
l
    Einen Tag nach dem Erscheinen des Killers in Marlins Apartment heulte ein Schneesturm durch die Betonschluchten von New York. Zusammen mit der üblichen Weihnachtshektik sorgte er dafür, daß es schwierig wurde, einen Flug nach England zu buchen. Doch Judith hielt auch weiterhin an ihrer Absicht fest, und es mangelte ihr nicht an Entschlossenheit: Sie wollte Manhattan verlassen, trotz der Proteste Marlins. Ihr Standpunkt war keineswegs unvernünftig. Der Unbekannte hatte zweimal versucht, sie umzubringen, und vermutlich trieb er sich noch immer in der Stadt herum. Vielleicht unternahm er einen dritten Versuch, wenn Jude in New York blieb. Aber selbst wenn ihr keine Gefahr drohte (ein Teil von ihr glaubte nach wie vor, daß der Killer beim zweiten Mal gekommen war, um etwas zu erklären oder sich zu entschuldigen): Sie hätte trotzdem einen Vorwand gefunden, um nach England zu-rückzukehren. Judith empfand Marlins Gesellschaft immer mehr als Belastung. Alles an ihm wirkte plötzlich übertrieben -
    sein Gerede klang ebenso zuckersüß wie die Dialoge in den klassischen Weihnachtsfilmen im Fernsehen, und jeder Blick verkündete Rührseligkeit. An dieser speziellen Krankheit litt er schon seit einer ganzen Weile, aber die Sache mit dem Killer hatte eine Verschlimmerung der Symptome bewirkt. Nach der Begegnung mit Gentle sah sich Judith außerstande, Marlins Gebaren noch länger zu tolerieren.
    Ihre Gedanken glitten nun in die Vergangenheit. Als sie gestern abend das Telefongespräch mit Zacharias beendet und aufgelegt hatte, bedauerte sie ihre Kühle ihm gegenüber. Im Anschluß an eine offene Aussprache mit Marlin - sie informierte ihn von ihrem Beschluß, nach England 131

    zurückzukehren, woraufhin er erwiderte, am nächsten Tag sähe alles ganz anders aus; er riet ihr, eine Schlaftablette zu nehmen und unter die Bettdecke zu kriechen - entschied sie sich, ihn anzurufen. Zu jenem Zeitpunkt schlief Marlin

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