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Imagica

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Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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sprach auch mit Klein, der seine Entschuldigung widerstrebend akzeptierte und auf eine Party hinwies, die am nächsten Tag bei Taylor und Clem stattfand. Gentle sei dort bestimmt willkommen.
    »Taylors Tage sind gezählt«, fügte Chester hinzu. »Und er würde sich bestimmt freuen, Sie wiederzusehen.«
    »Dann sollte ich ihn wohl besuchen«, sagte Gentle.
    »Ja. Er ist sehr krank. Hatte eine Lungenentzündung, und jetzt Krebs. Und er mag Sie sehr.«
    Die Sympathie für Gentle klang in diesem Zusammenhang wie eine weitere Krankheit, doch er verzichtete auf einen Kommentar und versprach, Klein am nächsten Abend abzuholen. Dann legte er auf und fühlte sich so niedergeschlagen wie selten zuvor. Er wußte natürlich, daß Taylor an Aids litt, aber erst jetzt erfuhr er, wie schlimm es um ihn stand. Schwere Zeiten... Wohin man auch blickte: Überall fielen Dinge auseinander. Die Zukunft schien nur Dunkelheit 134

    bereitzuhalten, eine Finsternis voller vager Schemen und Kummer. Pie'oh'pahs Zeitalter. Die Ära des Killers.
    Gentle schlief nicht, obwohl er sehr müde war. Bis spät in die Nacht befaßte er sich mit etwas, das er bisher für Unsinn gehalten hatte: mit Chants letztem Brief. Als er ihn zum erstenmal gelesen hatte, während des Flugs nach New York, klang alles absurd und sinnlos. Aber inzwischen war eine Menge geschehen, und deswegen sah Gentle bestimmte Situationsaspekte in einem neuen Licht. Er starrte auf Seiten, die vor einigen Tagen ohne jeden Wert gewesen zu sein schienen, und nun hielt er in Chants ausschweifendem Stil nach Hinweisen Ausschau, die ihm Aufschluß geben mochten. Was hatte es mit Gott Hapexamendios auf sich, den Estabrook prei-sen sollte? Er fand auch in Form von Synonymen Erwähnung: der Unerblickte; der Ursprüngliche; der Wanderer. Und was bedeutete der große Plan, auf den Chant während seiner letzten Stunden gehofft hatte?
    Ich BIN bereit, in dieser DOMÄNE zu sterben, hieß es in dem Brief. Wenn ich doch nur sicher sein könnte, daß mich der Unerblickte als Sein WERKZEUG verwendet hat. Gelobt sei HAPEXAMENDIOS. Denn er weilte am Ort des Saftigen Felsens und ließ Seine Kinder zurück, auf daß sie leiden. Ich kenne jenes Leid und BIN FERTIG damit.
    Nun, zumindest das stimmte. Der Mann hatte von seinem unmittelbar bevorstehenden Tod gewußt, und vielleicht war ihm auch die Identität seines Mörders bekannt gewesen. Hieß er Pie'oh'pah? Gentle zweifelte daran. Chant erwähnte den Killer, aber nicht als seinen Henker. Beim ersten flüchtigen Lesen des Briefs hatte Zacharias nicht einmal begriffen, daß von Pie die Rede war. Jetzt erschien es ihm offensichtlich.
    Sie stehen im Bunde mit einem Wesen, das EINZIGARTIG
    ist, nicht nur in dieser DOMÄNE, sondern auch in allen anderen. Ich habe Sie zusammengeführt und frage mich: Der Umstand, daß ich bald sterben werde - ist er Strafe oder Lohn?
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    Seien Sie vorsichtig bei allen Interaktionen mit jenem Geschöpf, denn soviel Macht ist unberechenbar. Das Wesen hat kein festes SELBST, sondern stellt eine Ansammlung von Möglichkeiten dar, zeichnet sich durch eine schillernde und prismatische Natur aus. In jeder Hinsicht ein Apostat...
    Ich war nie ein Freund jener Macht - nur BEWUNDERER
    und VERDERBER gehören ihr an -, aber sie vertraute mir als ihrem Repräsentanten, und ich habe ihr ebensoviel Leid zugefügt wie Ihnen. Vielleicht sogar noch mehr: Das Wesen fühlt sich in dieser DOMÄNE genauso einsam wie ich. Sie brauchen nicht ihr WAHRES ICH zu verbergen; freuen Sie sich über Ihre Freunde, die Sie als jenen Mann kennen, der Sie sind. Halten Sie an ihnen und ihrer Liebe fest, denn der Platz des Saftigen Felsen wird erzittern und erbeben, und nur Zuneigung kann Trost spenden. Ich gebe Ihnen diesen Rat, weil ich eine solche Zeit erlebt habe. Mit FREUDEN nehme ich zur Kenntnis: Wenn sich so etwas für die FÜNFTE DOMÄNE
    wiederholt, so werde ich tot sein und mein Antlitz der Herrlichkeit des UNERBLICKTEN zuwenden.
    Gelobt sei HAPEXAMENDIOS.
    Was Sie betrifft, Sir: Ich biete Ihnen hiermit meine Reue an.
    Und ich bete für Sie.
    Damit war der Brief noch nicht zu Ende, doch nach diesem Abschnitt wurden Handschrift und Satzstruktur immer unverständlicher. Chant schien in Panik geraten zu sein; vielleicht hatte er den Rest gekritzelt, während er sich den Mantel überstreifte. Wie dem auch sei: Die ersten Passagen enthielten genug Andeutungen, um Gentle daran zu hindern, Ruhe zu finden. Als besonders besorgniserregend erwiesen sich die

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