Imagica
hatte? Eines stand fest: Er würde nicht in die Vierte oder eine andere Domäne zurückkehren. Zwar wartete Patashoqua noch immer auf seinen Besuch, aber er hatte sich die Stadt mit jemandem ansehen wollen, der nicht mehr existierte - und deswegen verlor er das Interesse.
Auch Judith erlebte seltsame und anstrengende Zeiten. Sie hatte spontan beschlossen, Gamut Street zu verlassen, in der festen Überzeugung, daß sie schon bald wieder dorthin zurückkehren würde. Aber je länger sie dem Haus fernblieb, desto schwerer fiel ihr die Vorstellung, es noch einmal 130
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aufzusuchen. Erst nach Sartoris Tod wurde ihr klar, wie wichtig er für sie gewesen war. Wo auch immer ihre Gefühle für ihn entsprangen - sie bereute nichts. Zu deutlich empfand sie es, einen großen Verlust erlitten zu haben. Zusammen mit Hoi-Polloi mietete sie eine kleine Wohnung (ihr Apartment enthielt zu viele Erinnerungen), und in jeder Nacht schreckte sie dort aus dem Schlaf, geweckt von einem schrecklichen Traum, der ihr Tränen in die Augen trieb: Sie stieg die verdammte Treppe im Haus an der Gamut Street hoch und versuchte, Sartori zu erreichen, der oben verbrannte; aber so sehr sie sich auch bemühte - sie brachte nur eine Stufe hinter sich. Wenn Jude erwachte, hörte Hoi-Polloi immer die gleichen Worte von ihr:
»Bleib bei mir. Bleib bei mir.«
Irgendwann mußte sich Judith mit der Tatsache von Sartoris Tod abfinden, aber bis es soweit war, konnte sie sich mit einem Andenken trösten, das sich im Verlauf des Herbstes immer deutlicher bemerkbar machte. Manchmal bewegte es sich in ihr und weckte sie selbst dann, wenn die Alpträume ausblieben.
Jude fand immer weniger Gefallen an ihrem Spiegelbild - der Bauch wölbte sich weiter vor, und die Brüste schwollen an -, aber Hoi-Polloi zögerte nie, erforderlichen Trost zu spenden und ihr gut zuzureden. Sie erwies sich als loyal, praktisch und lernwillig und war genau das, was Judith während jener Monate brauchte. Die Traditionen der Fünften erschienen ihr zunächst rätselhaft und geheimnisvoll, aber schon bald gewöhnte sie sich an diese Exzentrizitäten und mochte sie.
Andererseits: Die gegenwärtige Situation konnte nicht auf Dauer von Bestand sein. Wenn sie in der Fünften verweilten und Jude ihr Kind hier zur Welt brachte - was erwartete es dann? Sollte es in einer Welt aufwachsen, die Außergewöhnliches ablehnte, das Wundersame vielleicht erst in ferner Zukunft zu schätzen lernte? In einem solchen Ambiente mußten die besonderen Fähigkeiten des 1309
Ungeborenen verkümmern.
Mitte Oktober rang sich Jude zu einer Entscheidung durch.
Sie beschloß, die Fünfte mit oder ohne Hoi-Polloi zu verlassen und irgendwo in Imagica einen Ort zu finden, wo das Kind sein Potential entfalten konnte, ganz gleich, welche Rolle das Schicksal für Sartons Vermächtnis vorgesehen hatte. Um eine solche Reise zu unternehmen, mußte Judith in den Bereich der Gamut Street zurück, und diese Vorstellung war ihr alles andere als angenehm; sie wußte aber auch, daß sie nicht zögern durfte, wenn sie weitere schlaflose Nächte vermeiden wollte.
Also weihte sie Hoi-Polloi in ihre Pläne ein, und die junge Frau erklärte sich sofort bereit, sie zu jedem beliebigen Ort zu begleiten. In aller Eile trafen sie die notwendigen Vorbereitungen, und vier Tage später brachen sie mit einigen Wertgegenständen auf, die sie in der Vierten verkaufen wollten.
Es war ein kalter Abend, und der Mond trug einen matt glühenden Haloschein. Hier und dort glitt ein funkelndes Leuchten über die Straßen und glitzerte dort, wo sich erste Eiskristalle formten. Auf Judes Bitte hin begaben sie sich zuerst zum Shiverick Square, um noch einmal Sartoris zu gedenken. Die Gräber, in denen Gentles Bruder und die Oviaten ruhten, waren von Montag und Clem gut getarnt worden, und daher dauerte es eine Weile, bis sie die richtige Stelle gefunden hatten. Hoi-Polloi wartete am Zaun und gab Judith zwanzig Minuten lang Gelegenheit, mit sich und ihren Reminiszenzen allein zu sein. Sie spürte die Nähe von Geistern, wußte jedoch, daß der ehemalige Autokrat nicht zu ihnen gehörte: Er war nicht geboren, sondern erschaffen worden, mit gestohlener Lebenssubstanz; nach seinem Tod blieben nur die Erinnerungen in Judes Gedächtnis von ihm übrig. Sie vergoß deshalb keine Tränen und betrauerte auch nicht seine Abwesenheit - schließlich hatte sie alles versucht, um zu verhindern, daß er sich dem Tod preisgab. Aber sie wies 131
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die Erde auf
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