Imagica
zwischen Vierter und Fünfter Domäne markierte.
Diese Reise unterschied sich von den beiden anderen, die den Maestro durch Imagica geführt hatten. Beim erstenmal war er als jemand gekommen, der sich selbst fremd blieb, der nichts von seiner Vergangenheit wußte und dem daher die Bedeutung von Orten und Personen verborgen blieb. Beim zweiten Mal transferierte er sich als Phantom und flog mit der Geschwindigkeit von Gedanken zu den Mitgliedern der Synode. Dabei galt seine Aufmerksamkeit in erster Linie der unmittelbar bevorstehenden Zusammenführung, und deshalb konnte er den Myriaden Wundern Imagicas keine Beachtung schenken. Jetzt stand ihm nicht nur genug Zeit zur Verfügung, sondern auch vollständiges Wissen, das es ihm ermöglichte, alles zu verstehen. Zwar begann er die Reise widerstrebend, aber schon bald fand er ebensoviel Gefallen an ihr wie sein Begleiter.
Die Nachricht von den Veränderungen in Yzordderrex hatte selbst die kleinsten Dörfer erreicht, und überall feierte man das Ende des Autokratenreiches. Darüber hinaus kursierten Gerüchte über das neue, vereinte Imagica. Wenn Montag den Leuten erzählte, woher er und sein Begleiter kamen - er nutzte praktisch jede Gelegenheit, um darauf hinzuweisen -, so gab man ihnen zu trinken und bat sie, von der paradiesischen Fünften zu berichten. Viele Zuhörer wußten, daß die Tür zu 131
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jener Domäne inzwischen geöffnet war, und sie beabsichtigten, der ihnen unbekannten Welt früher oder später einen Besuch abzustatten. Sie wollten wissen, welche Geschenke sie im Hinblick auf eine Domäne mitnehmen sollten, die so viele Wunder enthielt. Wenn jemand diese Frage stellte, überließ Montag die Antwort dem Maestro.
»Nehmt die Geschichte eurer Familien mit«, sagte er. »Eure Gedichte und Witze. Eure Schlaflieder. Schildert den Bewohnern der Fünften die hiesigen Herrlichkeiten.«
Manche Personen sahen ihn verdutzt an, wenn Gentle auf diese Weise antwortete, und erwiderten, daß ihre Witze und Familiengeschichten nicht besonders interessant seien. Hörte der Rekonziliant solche Einwände, entgegnete er:
»Es gibt euch. Ihr selbst seid das beste Geschenk für die Fünfte.«
»Wir hätten ein Vermögen verdienen können, wenn wir klug genug gewesen wären, einige Karten von England mitzunehmen«, sagte Montag eines Tages.
»Möchten wir ein Vermögen verdienen?« fragte Gentle.
»Für dich mag so etwas keine Rolle spielen, Boß«, meinte Montag. »Aber mir würde es gefallen, reich zu sein.«
Er hat recht, überlegte der Maestro. Wir hätten schon tausend Karten verkaufen können, obwohl wir gerade erst die Dritte erreicht haben. Er stellte sich vor, wie man die einzelnen Karten kopieren, wie man auch Kopien von den Kopien herstellen und die Darstellungen mit phantasievollen Details ergänzen würde. Als Gentle darüber nachdachte, erinnerte er sich an die eigenen Hände, die immer nur für Geld gearbeitet hatten, ohne jemals etwas von bleibendem Wert zu schaffen.
Aber im Gegensatz zu den von ihm gefälschten Bildern gingen Karten nicht auf ein definitives, im wahrsten Sinne des Wortes einzigartiges Original zurück. Ganz im Gegenteil: Sie mußten kopiert werden, damit sie wachsen, damit man die leeren Stellen ausfüllen und die Ungenauigkeiten berichtigen konnte. Und 1317
selbst wenn alle Einzelheiten stimmten: Karten waren nie in dem Sinne fertig. In den konkreten Äquivalenten ihrer Darstellungen kam es dauernd zu Veränderungen: Flüsse wurden breiter, mäanderten oder trockneten aus; Inseln entstanden und versanken wieder; selbst Berge bewegten sich.
Karten mußten immer wieder auf den neuesten Stand gebracht werden. Gentles Entschlossenheit wuchs bei diesen Überlegungen, und nach monatelangem Zögern entschied er sich nun, eine Karte von Imagica zu zeichnen.
Gelegentlich begegneten Montag und Gentle jemandem, der behauptete, den berühmtesten Sohn der Fünften Domäne -
Maestro Sartori - persönlich zu kennen. Oft erzählten die Aufschneider vom Rekonzilianten, und ihre Geschichten variierten, insbesondere dann, wenn es um seine Gefährten ging. Manchmal hieß es, eine wunderschöne Frau hätte ihn begleitet, oder ein Bruder namens Pie; in einigen wenigen Fällen war von einem Mystif die Rede. Zuerst fiel es Montag sehr schwer, nicht mit der Wahrheit herauszuplatzen, aber Gentle bestand von Anfang an darauf, inkognito zu reisen, und der Junge hielt sein Versprechen, nichts zu verraten. Er schwieg, während sie sich die
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